Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Titel: Die Mondspielerin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
Vom Netzwerk:
sind, wie Sie sind«, schrieb Marianne. Sie steckte die Karte in die Manteltasche.
    Sie fand das Schild zum sentier côtier nach knapp hundert Metern auf der linken Seite der Dorfstraße, daneben ein Briefkasten; sie warf die Postkarte ein.
    Sie war sich klar, dass das ihr letztes Lebenszeichen sein würde.
    Sechs Kilometer bis Port Manec’h; dort flossen Belon und Aven zusammen in den Atlantik. Zwölftausend Schritte bis zum Ende.
    Marianne passierte eine alte chaumière aus Granitstein mit tief herabgezogenen Fenstergiebeln, ein Haus so alt wie die Hoffnung. Dann schälte sich der schmale Wanderweg aus Kerdruc heraus und in den dämmrigen Wald hinein. Bäume wie Kathedralenbögen, gras- und efeubedeckte Wälle wölbten sich über dem schmalen Pfad. Der Geruch des Waldes vermählte sich mit dem eigentümlichen Parfüm aus Tang, Salz und Gischt.
    Ein Wald, in dem es nach Meer riecht.
    Der Weg verschmälerte sich, und Flechten und schlammige Pfützen rangen mit seinen engen Schleifen. Am Ende einer Senke traf Marianne auf den ersten Seitenarm des Aven. Ein Rinnsal teilte den lehmigen Flussgrund, und der sentier ringelte sich eine Anhöhe hinauf, vorbei an haushohen, mit Flechten bewachsenen Felsen.
    Es war wie im Urwald. Nur Himmel, Bäume, Wasser, Erde und das Feuer der steigenden Sonne über ihr.
    Sie atmete ein. Sie atmete aus.
    Marianne schrie.
    Es war, als ob sie keine Macht darüber hatte, wie lang ihr Schrei dauerte. Sie schrie beim Ausatmen, beim Einatmen, ihr ganzes Leben lag in diesem Schrei in Scherben, und Marianne schrie und spuckte sie alle aus. Ihre Seele spuckte farbloses Blut.
    Als Marianne weiterging, schien es ihr, als ob etwas von ihrem Rücken herabgesprungen war. Etwas mit scharfen Klauen, das sich darin vergraben hatte. Die Angst. Die Angst war davongesprungen, ein hässliches Tier mit roten Augen, und jetzt raste es durchs Unterholz, um den nächsten Rücken in Besitz zu nehmen. Es raschelte und knackte in den Tiefen der grünen Wand.
    Ich habe nie bemerkt, dass ich lebe, dachte Marianne.

    Die Flut drückte frisches, salziges Wasser in die Seitenarme. Der Geruch des Waldes veränderte sich.
    Ihr Körper teilte mit seinen Bewegungen die Zeit, und Marianne fühlte sich nicht mehr fremd auf diesem Stückchen Erde, als ob sie sich mit ihr vermischt hätte und sich die widerspenstigen Grenzen zwischen Mensch und Materie auflösten.
    In ihrem Kreuz hatte sich Nässe gesammelt. Sie spürte ihren Körper mehr denn je. Wie die Muskeln unter der ungewohnten Mühe zuckten, mehr wollten, sie wollten gehen, sich bewegen, arbeiten.
    Und dann erschlug sie der Duft. Dieser einzigartige Duft!
    Tief unter ihr, unter den hellen, urzeitlichen Klippen rollte das Meer ans Ufer. Marianne konnte es riechen. Es hören. Sie schmeckte Salz auf den Lippen, und sie verliebte sich rettungslos in den Anblick dieses Meeres. Wie das Licht auf ihm tanzte.
    Marianne folgte dem jahrhundertealten Zöllnerpfad über die Steilküste weiter nach Norden. Sie hoffte inständig, dass er sie bald direkt an die Wasserkante hinabführen würde, damit sie ihre Hände endlich in diese endlose, duftende Weite tauchen konnte.

    Marianne sang, und die Wellen gaben ihr den Takt vor. Sie schwappten hinter ihr ans Ufer, an einen schmalen, treppenförmigen weißen Strand zwischen bewachsenen Klippen voller Seegras, Heidekraut, Wildblumen und Ginster.
    Marianne ging dem Meer entgegen, während sie Hijo de la luna für es sang, eines der schönsten Fado-Lieder, das sie kannte – voller Sehnsucht und Schmerz: Eine Zigeunerin flehte die Mondin an, ihr einen Mann zu schenken. Doch die Mondin verlangte als Gegenleistung das erstgeborene Kind!
    Die Frau fand ihren Geliebten, das Kind kam zur Welt. Es war hell wie das Fell eines Hermelins und hatte graue Augen. Der Zigeuner glaubte an Ehebruch und erstach seine Frau. Das Kind setzte er auf einen Berggipfel aus. Wenn es weinte, nahm die Mondin ab, bis sie eine Sichel war, um dem Kind eine Wiege zu sein.
    Mutter und Mondin wurden angeklagt: Wer sein ungeborenes Kind hergibt, um einen Mann zu bekommen, verdient nicht die Liebe eines Kindes. Und die Mondin hat kein Recht auf Mutterschaft, was sollte sie mit einem Wesen aus Fleisch und Blut anfangen?
    Was wolltest du nur mit dem Kind, Mondin?
    Doch niemand klagte den Mann an, der seine Frau tötete, aus Eitelkeit, aus Angst, aus törichtem Stolz.
    Und so ist es immer, dachte Marianne, während sie den Saum ihres Kleides höherhob; die Männer klagt keiner

Weitere Kostenlose Bücher