Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
haften.
»Und wie begegnet man den Toten?«
Pascale streichelte nachdenklich die blühenden blauen Hortensien. Dann schien sie sich einen Ruck zu geben. Ihre Stimme war leise, als ob sie ein Geheimnis zum ersten Mal verriet.
»Am Vorabend von samaine, auch sa-un oder samhuin genannt, wenn sich Erde und Himmel, Leben und Tod angleichen, sind alle Tore zwischen den Welten offen. Die alten wie die neuen Götter kommen aus der Anderswelt und bringen die Toten mit. Und uns ist es gestattet, ihr Reich zu besuchen.«
Pascale deutete unbestimmt in den Garten hinein. »Durch das Meer, durch Brunnen oder durch Steinkreise. Dort warten die Feen auf uns. Die Trolle. Die Riesen. Der Schleier zwischen den Welten ist hauchdünn. Wie Spinnweben. Manche von uns können den Schleier an jedem Tag des Jahres zur Seite schieben.«
»Warum kommen die Toten in der sa-un zu uns? Haben sie … einen Rat für uns?« Marianne dachte an ihre Großmutter. Und ihren Vater. Wie gern hätte sie sie wiedergesehen und sich ihnen anvertraut.
Pascale sah Marianne ernst an. »Mit den Seelen in der Anderswelt Kontakt aufzunehmen ist nicht so einfach wie telefonieren! Manche von uns hören sie. Mit dem Herzen. Andere brauchen einen Druiden oder eine Hexe dazu.«
Aus dem Haus hinkte Emile, ein Tablett mit kaltem chouchenn in den Händen. Diesmal mit drei Gläsern. Er trug es schwerfällig zu dem geschmiedeten Tischchen unter dem Apfelbaum mit den zartroten Früchten und nickte Marianne kurz zu.
Pascale erhob sich, schmiegte sich an ihren Mann und schloss die Augen. Marianne spürte, wie einander ebenbürtig ihre Liebe war. Ein Gefühl zärtlicher Zuneigung wallte in ihr auf.
Pascale redete weiter, während sie ihrem Mann über sein unbewegtes Gesicht streichelte. »Wenn jemand ein Problem mit der diesseitigen oder der Anderswelt hatte, rief er einen Druiden – der eine hatte Probleme mit seiner Frau, der Nächste mit einem Dämonen, der Übernächste mit Durchfall. Druiden waren die Hüter allen Wissens. Auch die Stammesfürsten suchten ihre Meinung. Religiös, moralisch, praktisch, die Druiden wussten auf alles eine Antwort.«
»Gab es … gab es auch Druidinnen?«
»Natürlich konnten Frauen auch Priesterinnen sein. Es war üblich, Mädchen für zwei Jahreszeiten zu Priesterinnen zu schicken, um sie zur Seherin, Heilerin oder Druidin auszubilden. Aber das war mit einer Bedingung verknüpft: Sie mussten sich zwischen der Stellung als Hohepriesterin oder als Frau an der Seite eines Mannes entscheiden. Liebe und Weisheit schlossen einander aus.«
Sie gab Emile noch einen Kuss, und er zog sich wortlos in den Schatten der Laube zurück.
Pascale spielte mit einer Butterblume. »Jede Frau ist eine Priesterin«, sagte sie unvermittelt. »Jede.« Sie wandte sich Marianne zu, ihre Veilchenaugen klar wie Wasser. »Die großen Religionen und ihre Hirten haben der Frau einen Platz zugewiesen, an den sie nicht gehört. Menschen zweiter Klasse. Aus der Göttin wurde Gott, aus den Priesterinnen Huren und aus den Frauen, die sich nicht beugen wollten, Hexen. Doch das Besondere jeder Frau, das Vorausahnende, das Kluge, das Heilende, das Sinnliche – wurde und wird erniedrigt.« Sie klopfte sich die vor Erde starrende Overallhose ab.
»Jede Frau ist eine Priesterin, wenn sie das Leben liebt. Wenn sie sich selbst verzaubert und jeden, der ihr heilig ist. Es wird Zeit, dass sich Frauen daran erinnern, welche Kräfte in ihnen stecken. Die Göttin hasst Verschwendung, und Frauen verschwenden sich viel zu oft.«
Sie gingen gemeinsam in die schattige, kühle Küche, und Marianne begann nachdenklich, den Hunden und Katzen feine Fleisch- und Fischfilets auf dem hauchdünnen Porzellan anzurichten.
Dann ging sie nach draußen, klatschte in die Hände und rief: »Meine Damen und Mätressen! Verehrtes Obst und Gemüse! Es ist angerichtet!«
Als sie ihnen die Teller hinstellte, stürzte die Meute von Hunden und Katzen darauf zu wie Piranhas auf einen losen Beinstumpf. Marianne lächelte, als sie ihren kleinen rotweißen Kater erspähte; sein Fell glänzte wie polierter Marmor.
»Er hat keinen Namen, der kleine Tiger, oder?«
Pascale lehnte ihren Kopf an Mariannes Schulter. »Nein. Er ist ein Reisender«, flüsterte sie. »Erst diese wandernde Seele wird ihm einen Namen geben.«
Pascale sah Marianne aus unergründlichen Augen an. »Nicht wahr?«
Marianne überlief ein Schauer. »Ja«, sagte sie. »Wenn sie weiß, wohin die Reise geht.«
»Danke, dass Sie mich
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