Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
nicht abscheulich finden«, raunte Pascale.
Dann erhellte sich plötzlich ihr Gesicht mit Freude. »Yann!«, rief sie, alle Melancholie war von ihr abgeperlt wie Wasser, und sie ging mit ausgebreiteten Armen auf den Maler zu. Yann nahm sie in seine Arme.
Marianne spürte, wie sie aus unerklärlichen Gründen rot wurde. Sie versteckte ihre dreckigen Hände hinter dem Rücken, und für einen absurden Augenblick wünschte sie sich, nicht in diesem unförmigen Overall zu stecken, mit Schlapphut auf dem Kopf und Grasflecken im Gesicht.
»Yann, das ist Marianne, meine neue Freundin. Marianne, das ist Yann, mein ältester Freund.«
»Bonjour«, presste Marianne hervor. Was war denn auf einmal mit ihr los?
»Enchanté, Mariann«, murmelte Yann.
Sie schwiegen, sahen sich nur an. In Marianne stand alles still. Sie dachte nichts.
»Was ist los? Seid ihr zu Steinen geworden?«
Er war etwas größer als sie, und sie sah in seinen Augen hinter den geschliffenen Gläsern das Meer. Der Mund, zwei geschwungene Wellen, die aufeinandergeworfen wurden. Eine Kerbe im Kinn. Unzählige tiefe Fältchen, die wie Strahlen von seinen hellen Augen über seine Wangen strebten. Diese Augen lächelten sie an und zogen Marianne zu sich.
»Ich glaub, ich muss jetzt gehen.« Marianne musste sich beherrschen, um nicht panisch ins Haus zu laufen. Sie spürte, wie sich ein albernes, unhaltbares Lächeln auf ihr Gesicht setzen wollte; rasch verbarg sie es mit der Hand und lief mit gesenktem Kopf ins Haus.
Als sie sich umgezogen hatte, war sie versucht, ohne ein kenavo aus dem Haus zu schlüpfen. Doch ihr fiel ein, dass ihre Handtasche noch auf der Terrasse lag, und sie ging mit steifen Schritten hinüber, um sich zu verabschieden.
Sie wagte es nicht, Yann anzusehen, als sie fahrig ihre Tasche nahm. Doch sie war zu hastig, erwischte nur einen Henkel; die Tasche klappte auf, und ihre geliebte Kerdruc-Fliese rutschte heraus.
Geschickt fing Yann sie auf und drehte sie ins Licht.
»Aber, das ist doch …« Er schaute verblüfft auf die Inschrift.
»Das ist ja eine von deinen ersten Kerdruc-Kacheln, Yann!«, rief Pascale.
Yann reichte Marianne die Fliese. Als sie danach griff, berührten sich ihre Finger. Es war wie ein kleiner, warmer Stromschlag, und als sie in seine Augen sah, wusste sie, dass er es auch gespürt hatte. Marianne drückte die Kachel an sich und eilte nach einem fahrigen »A demain« davon.
23
A m nächsten Tag wagte Marianne es nicht, wie versprochen zu Pascale und Emile zu gehen. Nach der Mittagsschicht wanderte sie unruhig in ihrem Muschelzimmer auf und ab. Der rotweiße Kater saß am Fenster und beobachtete sie. Für einen Moment erhaschte Marianne in dem geschwungenen Spiegel über der Kommode einen Blick auf sich selbst. Sie war nicht schön. Sie war nicht schick. Sie war nur eine alte Frau unter Fremden. Und was war das nur gewesen, mit diesem … Yann. Er heißt Yann.
Etwas kullerte in ihrem Bauch, wenn sie an sein Gesicht dachte und an die warme Fülle seiner Hand; sie kannte dieses Gefühl nicht. Eine süße Unruhe, quälend, wie zerplatzende Bläschen in der Brust.
»Was tue ich hier eigentlich?«, fragte sie leise in den Raum hinein.
Aus dem einstigen Wunsch zu sterben war etwas anderes, viel Banaleres geworden: Sie war davongelaufen. Durchgebrannt. Wäre es nicht an der Zeit, Lothar anzurufen und ihm zu sagen …
Hoffentlich denkt Lothar, ich bin tot.
Was sollte sie ihm sagen? Ich komme nicht mehr zurück? Ich will die Scheidung? Und dann? Würde sie ihr Leben als Küchenhilfe in einem Restaurant zubringen, bis sie zu alt geworden war, um einen Kochtopf zu heben? Mit einer Freundin, die eine Hexe war und von einem Augenblick auf den nächsten vergaß, wer Marianne war. Und doch: Es tat so gut, die eigene Sprache zu hören und zu sprechen. Marianne sehnte sich nach einer Freundin.
Jemand, wie es Grete Köster gewesen war; Marianne bedauerte zutiefst, dass sie Grete niemals so viel Vertrauen geschenkt hatte wie diese ihr. Aber wer weiß – vielleicht war das die geduldigste aller Lieben: Freundschaft. Grete war nie in Marianne gedrungen, sie hatte akzeptiert, dass Marianne niemals sagte, wie sie sich wirklich fühlte. Sie hatte Marianne als Zuhörerin geschätzt und niemals versucht, ihr ihre Ehe auszureden.
»Wer leidet und nichts ändert, braucht es«, das war das Einzige, was sie dazu gesagt hatte. Marianne war verletzt gewesen und hatte Grete gesagt, dass es so einfach nicht wäre. Hatte ihr
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