Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
für den Jahrestag unserer Freundschaft; der 14. Juli«, sagte Colette, die Worte kamen ihr gestelzt und falsch vor.
Sidonie griff erst nach dem Buch, als Colette ihre Hand zurückgezogen hatte.
»Die Schrift der Steine …«, las Sidonie leise. »Von Robert Caillois.«
Colette sah, wie Paul auf Rozenn zuschritt und sich verbeugte. Wie Rozenn sich abwandte. Wie Paul etwas in ihren Rücken hineinsagte, und Rozenn sich umdrehte wie geschlagen.
»Caillois war Philosoph und Soziologe, er gehörte in den 1930er Jahren der Gruppe der Surrealisten an und hat später mit Georges Bataille das Collège de Sociologie gegründet«, hörte Colette sich mit einer unnatürlich hohen Stimme dozieren.
»Ach«, sagte Sidonie. »Wie schön.«
»Er empfindet Steine als Gegenstück der Dynamik, erst durch ihre Bewegungslosigkeit wird des Menschen Suche sichtbar … also … ohne die Steine würden wir nicht merken, dass wir uns bewegen und …« Colette hielt inne. Was redete sie denn da!
»Steine sind nicht bewegungslos«, sagte Sidonie nach einer Weile.
Sie beide hielten ihren Blick fest auf Paul und Rozenn gerichtet. Er führte seine Ex-Frau in die Mitte der Mole. Halb zog er sie, halb trieb sie ihn; in ihren Gesichtern Wahrheit und Schmerz. Auf der Bühne gab der Geiger das Zeichen, und die ersten Akkorde eines Tangos erklangen, geführt und in die Nacht hinausgedrängt vom Akkordeon, bevor ihm die Violine nachsetzte.
»Sie bewegen sich. Niemand sieht es. In Amerika gibt es ein Tal«, redete Sidonie weiter, »das Tal des Todes. Felsbrocken wandern über den Sand. Niemand zieht sie. Man erkennt Schleifspuren. Hunderte Meter lang. Steine bewegen sich.«
»Sie bewegen sich, wenn wir nicht hinsehen?«, fragte Colette. Redeten sie wirklich über Steine?
»Ja«, flüsterte Sidonie. »Niemand sieht es, wenn sie sich bewegen.«
»Ich dachte … wir hätten einen festen Platz«, sagte Colette.
»Wir?«, fragte Sidonie.
»Wir Steine.«
Zum ersten Mal wandte Sidonie ihren Kopf zu Colette. »Es heißt, die Dolmen der Bretagne bewegen sich am Heiligen Abend, wenn die Uhr Mitternacht schlägt. Für zwölf Glockenschläge laufen sie über das Land, um am Meer zu trinken. Aber uns Steinen ist es zu wenig, nur ein Mal zu tun, was wir wollen. Wir bewegen uns, weil wir etwas suchen, was wir begehren«, sagte Sidonie, und Colette wagte nicht, zu blinzeln, um den Anblick von Sidonies Augen nicht zu verpassen.
Nein. Sie redeten nicht über Steine.
Sie redeten über sich, über Colette und Sidonie.
»Aber was ist das, was die Steine begehren?«, fragte Colette in Sidonies Gesicht hinein, doch sie ahnte es. Sie ahnte, dass sie es immer gewusst hatte, was Sidonie ihr gerade zu sagen versuchte. In Colette brach etwas entzwei; es barst wie ein Fels, sie schmeckte Steinstaub auf der Zunge.
Marianne räumte Gläser und Teller von den Tischen, sogar aus einigen Blumenkübeln pflückte sie geleerte Cidregläser. Sie sah zu Yann, der auf einem Klappstuhl neben der Bühne saß und seinen Stift über das feste Papier eines Skizzenblocks fliegen ließ. Immer wieder suchte sein Blick Marianne in der Menge, und wenn sich ihre Augen über die Distanz hinweg trafen, dann schien die Zeit zu stolpern, und Marianne spürte, wie etwas in ihrer Brust zersprang wie eine Träne, die in eine Hand fällt und nicht zu Boden. Dann schob sich wieder ein Tanzpaar zwischen ihren Blick. Marianne liebte diesen Moment, wenn sie dann ein paar Schritte zur Seite wich und Yann dabei zusah, wie er sie suchte.
Er sucht mich.
Sie atmete tief ein und aus. Parfüm, Grillgeruch, Salzwasser, Meeresluft. Eine von Feiern und Lachen gesättigte Nacht.
Er will mich finden.
Marianne hob das Tablett hoch und sah Weinstein in den Gläsern.
Ich bin verliebt.
Marianne stellte sich vor, wie es wäre, mit Yann Gamé zu schlafen.
Doch sie vergaß es sofort, als sie Laurine erblickte: Die hatte zwei Tabletts in der Hand und konnte sich nicht gegen das aufdringliche Getatsche eines betrunkenen Gastes wehren. Marianne ging mit großen Schritten auf den Kerl zu und schlug ihm von hinten auf den Kopf. Der Mann drehte sich verdattert um.
»Noch einmal, Bürschchen«, sagte sie in grollendem Deutsch, »und ich hacke dir beide Pfoten ab.« Der Mann erblasste und verschwand in der tanzenden Menge.
Paul drehte Rozenn aus einer fließenden Bewegung herum. Es war wie immer gewesen. Ihre Körper verstanden einander blind; nichts musste zwischen ihren Leibern verhandelt werden.
Zuerst
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