Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
Marianne hörte nur das helle Dröhnen des Rollers, schmeckte den nächtlichen Tau und fühlte, wie die Nachtkühle unter ihre Hosenbeine und ihre nackten Knöchel hinaufkroch. Das Gewicht des Akkordeons zog an ihrem Körper, bei jeder Bodenwelle schien sich der Balg um Millimeter zu öffnen und zu schließen. Und da war es wieder, das Seufzen, der kleine Akkord.
Als Marianne am Uferkamm des Plage Tahiti stand und in den schwarzblauen Atlantik hinaussah, über sich nichts als Sterne, unter sich nichts als Sand, nahm sie das Akkordeon von den Schultern, drehte es um, schlang es sich vor die Brust und öffnete den Balg.
Ausatmen. Einatmen.
Sie hatte schon immer a-Moll geliebt. Sie rückte zwei Knöpfe vom C-Knopf höher.
Ausatmen. Einatmen.
Es war ein Menschenleben her, seit sie gespielt hatte; vierzig … nein, hundert Jahre.
Marianne drückte Ring- und Zeigefinger hinunter und zog den Balg auf. Der melancholische Akkord klagte erhaben, hoheitsvoll und laut aus dem Inneren des Instruments heraus in die Nacht. Er vibrierte in ihrem Bauch und in ihrem Herzen.
Das war es, was Marianne so sehr geliebt hatte; dass sie die Musik fühlen konnte, in ihrem Bauch, in ihrem Schoß, in ihrer Brust. In ihrem Herzen. Die Klänge übertrugen sich auf ihren Körper, und sie drückte den Balg wieder zusammen, der a-Moll-Akkord verwandelte die Nacht in Musik.
Marianne ließ die Knöpfe los und plumpste rückwärts schwer in den Sand. Das Akkordeon hatte das Meer gebraucht, um aus seiner Starre zu erwachen.
Wie ich.
Ihre Gedanken waren so erfolgreich vor Lothar davongelaufen. Doch jetzt stürmten sie umso grollender über sie hinweg.
War er wirklich so ein schlechter Mann gewesen? War es nicht doch meine Schuld? Habe ich wirklich versucht, etwas zu ändern? Habe ich ihn vielleicht nicht genug geliebt? Könnten wir es noch einmal miteinander versuchen? Hat er denn nicht verdient, dass ich ihm eine Chance gebe? Und heißt es nicht immer: Liebe ist, jemanden so zu nehmen, wie er ist – habe ich das wirklich getan?
Sie war nun schon so lange von zu Hause fort. Und doch nicht lang genug. Sie war in ein komplett neues Leben geschwommen; aber die einundvierzig Jahre mit Lothar waren übermächtig und groß. Sie ließen sich nicht ausziehen wie ein altes Nachthemd. Sie folgten ihr, wohin sie auch ging, mit wem sie auch lachte. Sie waren wie dieses Meer, das am Land fraß und es niemals in Frieden lassen würde.
»Merde«, flüsterte sie erst zögernd und dann fester: »Merde!«
Sie schrie es nun den Wellen entgegen: »Merde! Scheiße! Merde!«, und begann, jedes Wort mit einem Akkord zu unterlegen.
Ein Tango de la Merde, ihre Finger fanden die Knöpfe nicht sofort, es war alles durcheinander auf dem Akkordeon, das F unter dem C, das D unter dem A, das G über dem C … Marianne fluchte, Marianne drückte, das Akkordeon stieß Laute hervor, Flehen, Schreie, Hass, Leidenschaft, Sehnsucht; sie bändigte sie, gab ihnen Raum und Kraft, ließ sie hinausziehen in die Finsternis. Marianne ließ den Balg die salzige Luft atmen, und als sie zu erschöpft war, um noch zu spielen, legte sie den Kopf auf das Instrument.
Sie atmete ein. Sie atmete aus. Marianne meinte, ein weibliches Lachen zu hören; vielleicht war es Nimue, die Herrin des Meeres?
Marianne sah auf, und der Mond war eine Sichel; eine Wiege, und sie war bleich und silbern, zuckte vor der Sonne zurück.
Zögernd bewegten sich Mariannes Finger. Versuchten, sich zu erinnern. An das schönste Lied, das Marianne je auf dem Akkordeon gespielt hatte; das Lied über den Sohn der Mondin – d-Moll, g-Moll, F-Dur, A7. Hijo de la luna.
Marianne übte, bis ihre Finger der morgendlichen Kälte und Nässe nicht mehr trotzen konnten. Ihr linker Arm schmerzte vom Ziehen und Drücken des Balgs, ihr Rücken vom Gewicht des Instruments. Die Dämmerung hatte der Nacht den Mantel abgenommen, und hinter ihr zeichnete sich im Osten die aufgehende Sonne ab.
Erschöpft ließ sie von dem Instrument ab. Marianne war bang. Sie wusste nicht, was Wahrheit und was nur Wunsch war. Langsam spielte sie Piazzollas Libertango an.
Doch keine Antworten. Nirgends. Nur Fragen. Fragen.
29
V ier Tage später, am 14. Juli, erschienen Marianne das Ar Mor und die Auberge wie auf links gedreht: Seit den Morgenstunden hatten sie Tische, Stühle, die Hälfte des Küchengeschirrs und eine fahrbare Bar aus dem Restaurant auf der Mole aufgebaut. Überall hingen bunte Lampions an Schnüren, es gab eine überdachte
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