Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
eigentliches Leben getanzt.
Obgleich der bal noch nicht offiziell eröffnet war, fanden sich bereits die ersten Stammgäste des Ar Mor ein: Marieclaude, ihre hochschwangere Tochter Claudine, Paul und die Zwillinge, die beobachteten, wie Jeanremy mit raschen und Padrig mit aufreizend gemäßigten Bewegungen das Buffet aufbauten.
Paul beugte sich vor und streichelte sacht Claudines Bauch. »Findet ihr nicht auch, dass Claudine großartig aussieht, so, so … schwanger?«
»Ich will nicht großartig aussehen. Ich will dünn aussehen«, maulte Marieclaudes Tochter.
»Aber wieso? Du siehst wunderbar aus. Vor allem dein Wackelhintern«, lachte Marieclaude.
»Hintern! Mein Hintern macht mit Männern rum, während ich woanders hinsehe, und ich kann rein gar nichts dagegen tun.«
Als die Nacht begann, sich an den Tag zu schmiegen, sang ganz Kerdruc die Marseillaise. Nach dem letzten Takt leiteten die Musiker in einen Tango über, und die Mole schien wie unter einem Farbstrudel wehender Kleider zu erglühen.
Paul saß mit verschränkten Armen auf der Terrasse des Ar Mor und beobachtete, wie sich Rozenn am Rand aufhielt und die Paare betrachtete, die sich vor ihr drehten.
Der »Knabe«, wie Paul ihren jüngeren neuen Mann nannte, hatte bisher nicht einmal mit ihr getanzt. Das würde ihr nicht gefallen. Rozenn liebte das Tanzen, vor allem Tango Argentino. Sie legte alles, was sie an Liebesgefühlen hatte, in ihren Körper hinein. Die Scheu, die Lust, die Angst, den Stolz.
Paul wusste, einer Frau das Miteinandertanzen zu verweigern bedeutete, einen Teil ihrer Persönlichkeit zu ignorieren; eine Kränkung, die sie nie ganz verwinden würde. Denn sie hatte etwas zu geben: ihre Hingabe. Einem Mann, der nicht mit ihr tanzte, würde sie niemals ihre Seele zur Gänze offenbaren. Für Rozenn hatte Paul heimlich Tanzstunden genommen, bei Yann, der wusste, wie ein Mann tanzt, so dass ihm eine Frau verfällt.
Jetzt sah Paul den Knaben – er hatte zwei Rotwein geholt und Paul ebenso entdeckt. Jetzt kam er auch noch auf ihn zu!
»Guten Abend, Paul«, sagte er überhöflich.
»Meine Frau sieht heute bezaubernd aus, finden Sie nicht?«, unterbrach ihn Paul.
»Sie ist nicht mehr Ihre Frau.«
»Haben Sie ihr schon gesagt, wie schön sie ist?«
»Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht.« Der Mann wandte sich zum Gehen. Die Musiker hatten ihr schnelles Tangostück beendet und ließen nun eine klagende Melodie, ein gwerz erklingen; und jene, die einander so schmerzhaft liebten, dass nur ihre Körper es zum Ausdruck bringen konnten, tanzten weiter. Die anderen flüchteten an ihre Gläser oder hielten sich an sich selbst fest.
»Ich wusste, Sie schaffen es nicht, Rozenn so zu lieben, wie meine Frau es braucht«, sagte Paul in den Rücken des Mannes hinein.
Jetzt fiel Paul auch wieder sein Name ein, den er immer so erfolgreich verdrängt hatte: Serge. Dieses Bübchen!
»Sie ist nicht mehr deine Frau!«, sagte Serge jetzt zornig.
»Sie fühlt sich aber noch so. Wetten?«
Serge wandte sich ein zweites Mal ab.
»Wetten?«, wiederholte Paul, lauter.
Jetzt drehte sich Serge um, seine Arroganz war verpufft. »Unsere Liebe ist größer als alles, was du je mit ihr hattest«, zischte er.
»Na, dann brauchst du ja keine Angst um den Ausgang unserer Wette zu haben. Oder doch? Hast du Angst vorm alten Mann?«
Serge stierte Paul mit leicht glasigen Augen an. Paul lockerte seine Arme und lächelte den Mann an, der mit seiner großen Liebe schlief, mit ihr aufwachte, mit ihr stritt und sie lachen sah.
»Was willst du?«, knurrte Serge.
»Einen Tanz. Nur einen.«
»Lächerlich.« Serge schnaubte auf.
»Allerdings. Nichts, wovor du Angst haben müsstest.«
Paul stand auf, bot Serge mit einer übertriebenen Geste seinen Platz an und beugte sich dann noch einmal rasch zu ihm hinunter.
»Sieh zu und lerne.«
Colette sah Paul, wie er den Musikern etwas zurief. Sie erblickte Simon, wie er auf sie zukam mit etwas, das nach einem seiner seltsamen Geschenke aussah, und wie er zurückwich, als er Colette und Sidonie so nah beieinandersitzen sah. Doch Colette verdrängte alles, was sie erblickte, an einen Platz in sich, wo es keine Bedeutung mehr hatte.
Sie und Sidonie saßen auf der höheren, renovierten Terrasse der Auberge, stumm.
Colette legte ihre Hand in dem lachsfarbenen Kurzhandschuh auf den Buchdeckel des Werkes, das vor ihr auf dem Tisch lag. Dann schob sie es über den Tisch auf die andere Seite des Schweigens.
»Für …
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