Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
herunterhängen ließ, nur den Kopf auf Mariannes Schultern legte, und beide, Schritt für Schritt, von der einen auf die andere Seite schaukelten.
Dabei weinte Sidonie, erst still, dann unhaltbarer, bis sie sich an Marianne festhalten musste, um vor lauter Weinen nicht zusammenzubrechen. In ihre Schluchzer hinein mischten sich die Worte, die alles erklären sollten. Sie spürte, wie die Umarmung von Marianne, ihre Hände auf Sidonies Rücken, etwas aus ihr heraussaugten; einen reißenden Strom aus Angst, Schmerz, Trauer und Zorn, der sich gegen die Ungerechtigkeit des Todes wandte.
Marianne spürte Sidonies Gefühle auf sich zuwogen wie eine Springflut. Und sie spürte, während sie ihre Finger wie Sensoren wenige Millimeter über den stämmigen Körper der Steinmetzin gleiten ließ, als ertaste sie pulsierende Entzündungsherde. Ihre Finger sahen, was Augen niemals erkennen konnten.
»Cancer« war das Wort, das Sidonie wiederholte und dabei auf ihren Körper zeigte: auf ihre Brust, ihren Kopf, ihre Nieren, ihren Schoß.
Der Krebs war überall. Er hatte jahrzehntelang in ihr geschlummert, und innerhalb weniger Monate war er explodiert.
In Mariannes Handflächen brannte es. Sie schmeckte Kupfer unter der Zunge und zog Sidonie wieder an sich.
Sidonie hörte abrupt auf zu weinen. So als ob die in ihr vorhandene Menge Tränen exakt aufgebraucht war. Nun wiegte Marianne sie, summte eine Melodie, bis Sidonie aufhörte zu zittern. Dann führte sie sie zu dem Sessel in der Ecke des Ateliers und schlüpfte durch die Tür zur Küche, um Tee aufzusetzen.
Als sie die Flasche Cognac in der Ecke stehen sah, schaltete sie das Gas unter dem Wasserkessel ab und goss den alten Brand in zwei Tassen. Eine randvoll. Diese reichte sie Sidonie.
»Auf ex«, verlangte Marianne.
Nach und nach bekam sie heraus, wie lang Sidonie davon wusste (lang), wer es wusste (niemand, außer ihr) und dass Sidonie nicht vorhatte, es irgendjemandem zu erzählen. Nicht ihren Kindern Camille und Jérôme, sie sollten sich nicht verpflichtet fühlen, für ein paar Monate aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden und sich mit dem Tod ihrer Mutter zu belasten. Nicht Colette. Der auf keinen Fall!
»Wieso Colette auf keinen Fall? Ich denke, Sie sind … Freundinnen?«
»Ja. Wir sind Freundinnen. Nur Freundinnen …« Die Art, wie Sidonie das Wort »seulement« aussprach, ließ Marianne wachsam werden.
»Seulement la grenouille s’est trompée de conte« – es ist nur der Frosch, der sich im Märchen irrt, zitierte Marianne leise eine der zahllosen Phrasen, die ihr Pascale beigebracht hatte.
Sidonie starrte Marianne an. »Ich bin der Frosch an der Wand«, sagte sie dann. »Ich verwandele mich nicht in einen Prinzen. Nicht mal in das Schoßhündchen einer Prinzessin. Ich liebe Colette. Sie liebt Männer. Das ist alles.«
»Das ist alles? Das ist … ganz furchtbar!«
Sidonie zuckte mit den Schultern.
»Sie müssen es ihr sagen, Sidonie.«
»Was?«
»Alles!«
»Nichts werde ich tun.«
»Wollen Sie sich einfach hinlegen … und … tot sein?«
Sidonie schloss die Augen. Dass sie es wusste, bald zu sterben, war eines. Dass es jemand anderer aussprach, das andere. Das Schlimmere. Es wurde wahr dadurch.
»Genau das. Ich werde sterben. Einfach so.«
Marianne atmete tief durch. »D’accord«, sagte sie und stand auf, um von dem Cognac nachzugießen.
Sidonie legte eine Platte auf, und Chevaliers Stimme drang durch das Atelier. Als sie zum Tisch zurückging, durchzuckte sie der bekannte Schmerz; nur war er diesmal tiefer. Die Verwüstung begann. Sie hielt sich an einem Stuhl fest, der fiel um, krachte gegen den Tisch und fegte das zerbrochene Steinherz vom Tisch.
Sidonie wartete, bis der Schmerz verebbt war, atmete tief und gleichmäßig. Marianne bückte sich, um die Hälften aufzuheben. In seinem Inneren hatte der Stein etwas verborgen: eine rötliche Färbung, mit dem flüchtigen Einfall eines blauen Schimmers.
Marianne brachte Sidonie zu Bett.
»Was wollten Sie eigentlich bei mir?«, fragte die Steinmetzin.
»Mich entschuldigen«, sagte Marianne.
»Aber … wofür denn?«
»Dass ich Sie alle belogen habe. Dass ich verheiratet bin und dass … Dass ich gar nicht die bin, für die ich mich ausgegeben habe.«
»Ja, aber … Sie sind doch immer noch Sie selbst?«
»Ja«, sagte Marianne. »Ja.«
Aber ich hatte mich vergessen.
Nachdem Marianne Sidonie verlassen hatte, fuhr sie, von einer inneren Rastlosigkeit
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