Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
seine ersten großen Bilder seit dreißig Jahren. Aber jetzt kann er die Bilder gleich ins Museum hängen lassen, Abteilung Täuschungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts.« Die Tür schnappte wieder zu.
Als Marianne schon auf der Treppe war, rief ihr Colette noch einmal hinterher: »Sie sind für mich gestorben, Mariann!«
Für Marianne ein weiterer Beweis dafür, dass sie nur geglaubt hatte, hier einen Platz gefunden zu haben.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Lothar.
»Sie wünscht uns eine gute Reise«, antwortete Marianne.
Vor Yanns Atelier griff Lothar nach ihrer Hand.
»Muss das sein?«, fragte er.
»Es ist eine Frage des Anstands«, antwortete Marianne und entzog sich ihm.
Des seltsamen Anstands, einem Mann zu sagen: Ich liebe dich. Aber ich bin nicht die, für die du mich hältst. Und ich will nach Hause. Plötzlich war Marianne voller wilder Hoffnung, dass Yann sie mit aller Gewalt zurückhalten würde.
Als sie an den hohen, weiten Fenstern von Yanns Atelier vorbeiging, dachte sie daran, dass sie nie die Bilder gesehen hatte, die Yann von ihr gefertigt hatte.
Sie holte tief Luft. War es das Richtige, zu gehen?
Als sie den Flur betrat, der zu dem großen, lichten Raum führte, hörte Marianne ein Schluchzen. Als sie das Atelier erreicht hatte, bemerkten weder Yann noch Marieclaude ihre Anwesenheit. Die alternde Friseurin schluchzte, und Yann hielt sie umarmt. Vor einem Bild, das die Silhouette einer nackten Frau zeigte. Einer wunderschönen, nackten Frau.
Doch dann verwandelte sich Marieclaudes Weinen in ein Lachen; sie hatte die ganze Zeit gelacht. Sie umarmte Yann und bedeckte sein Gesicht mit fliegenden Küssen.
Sie lachen über dich. Und wie dumm du bist.
Marianne floh; die Frage von Falsch oder Richtig musste nicht mehr gestellt werden.
»Und?«, fragte Lothar, als sie schwer atmend neben ihm saß und die Tränen zurückhielt. »Wie hat er es aufgenommen?«
»Wie ein Mann«, keuchte Marianne.
»Erstaunlich …«, meinte Lothar. »Weißt du, als du weg warst und das mit Simone passiert ist, da haben wir uns unterhalten … Er hat so von dir geschwärmt, dass ich zwischendurch dachte: Von wem redet der da bloß? Die Frau, die er in dir gesehen hat, hätte er niemals losgelassen.«
»Sie heißt nicht Simone, sondern Sidonie, und es ist ihr nicht etwas passiert, sie ist gestorben. Sidonie ist tot.«
»Natürlich. Entschuldige.« Lothar schwieg.
»Wollen wir in Paris noch ein paar Tage bleiben?«, schlug er vor. »Aber nur, wenn du mir nicht wegläufst«, schob er halb lachend, halb sorgenvoll nach.
Während draußen ein Wagen anfuhr, löste sich Marieclaude aus Yanns Umarmung. Sie hatte gelacht, als sie ihm erzählt hatte, dass sie an einem Schaufenster vorbeigegangen war und sich nicht erkannt hatte. Sie dachte nur: Wer ist denn diese unsympathische Kuh?, bis ihr auffiel, dass sie es selbst war.
Eben erst hatte Claudine ihrer Mutter von ihrer dramatischen Geburt im Ar Mor erzählt. Und auch, dass es Victor war, der sie geschwängert hatte. Er war verheiratet. Claudine hatte beschlossen, ihm nichts von seinem Kind zu erzählen. Er sollte sie lieben und sich für sie entscheiden, weil er es wollte, nicht weil er sich verpflichtet fühlte.
Und Marieclaude war jetzt Oma und war sofort zu Yann gelaufen, um ihn endlich dazu zu bewegen, sich mit ihr auf den Weg nach Kerdruc zu machen, damit sie sich bei Marianne bedanken konnte.
»Es sind wunderschöne Bilder. Hat Marianne sie schon gesehen?«
Er schüttelte den Kopf.
46
M arianne war es, als ginge sie Schritt für Schritt in ihren eigenen Fußspuren zurück, seitdem der TGV von Brest über Quimper, wo Lothar und sie eingestiegen waren, an Auray vorbei und weiter auf Paris zuraste.
Sie war eine andere, und war es doch nicht. Sie war die kleine Anni, die ihr größtes Abenteuer erlebt hatte. Wenigstens das hatte ihr Ausflug in eine andere Welt bewiesen: dass sie genau an dem Platz richtig war, den sie bisher innehatte. Sie hatte keine Option auf ein neues Leben, das war ein Irrglaube gewesen.
»Wir fahren gerade an Brocéliande vorbei«, begann Marianne und deutete auf den Schatten eines Waldes am Horizont. »Es ist der Wald unserer Träume, dort liegt Merlin, der Zauberer, begraben.«
»Den hat es doch gar nicht gegeben«, murmelte Lothar, er blätterte in einer AutoMotorSport.
»Wer sagt das?«
»Der Menschenverstand.«
Marianne schwieg und dachte an die Quelle neben dem Grab Merlins und wie sie an den Steinen gestanden hatte,
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