Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
erträumt war.
Aus der Auberge traten die über Nacht gebliebenen fest-noz -Gäste, um sich an den riesigen Frühstückstisch zu setzen.
In den sattgrünen Bäumen sangen Vögel, eine leichte Brise trug den Duft des Meeres heran, auf dem glitzernden Aven wiegten sich die weißen Boote. Père Ballack kam mit einem Armvoll Baguettes aus der Tür. Auf der Terrasse unter der roten Markise saßen, vor der Vormittagssonne geschützt, Emile und Pascale Goichon, Hand in Hand, zu ihren Füßen Madame Pompadour und Merline. Daneben Paul, der gerade ein Hörnchen in ein Rotweinglas stippte und es Rozenn an die Lippen führte. Auf der Gwen II, die sich von der Atlantikseite näherte und auf den Quai zuhielt, erkannte Marianne Simon und neben ihm eine Frau mit keckem Matrosenhütchen und Ringel-T-Shirt: Grete. Auf dem Sitz der Vespa sonnte sich Max.
Kein Yann.
Und keine Sidonie. Nie wieder.
Marianne schlug die Hände vor die Augen. Die anderen wussten es noch nicht. Sie wussten noch nicht, dass es nie wieder einen Rentnerclub-Montag in Kerdruc mit Sidonie geben würde.
Als sie die Hände vom Gesicht nahm, sah Marianne Geneviève, wie diese ihr zuwinkte, den anderen Arm um Alain geschlungen, der seine Genoveva ganz dicht an sich drückte.
Geneviève deutete auf einen freien Stuhl in der Mitte der langen Tafel; die anderen hatten sich bereits alle hingesetzt. Die Nonnen. Die Rentner aus Kerdruc. Der verliebte Koch. Grete. Die Sommergäste, die fanden, sie dürften keine Ferien mehr ohne diesen Hafen verbringen. Nur das schönste Mädchen im Dorf, Yann und Marieclaude, die Friseurin, fehlten. Und Marianne. Wieder deutete Geneviève auf den Sitz und bedeutete ihr, endlich herunterzukommen.
Das soll mein Platz sein?
Sie sah auf all diese wunderbaren Menschen.
Es klopfte. Lothar kam herein und trat hinter sie.
»Marianne«, sagte er. »Ich … möchte dich um Verzeihung bitten. Gib mir bitte noch eine Chance. Oder … willst du hierbleiben?«
Marianne sah hinunter auf den Quai. Wer immer dort auf diesem Stuhl bei diesen außergewöhnlichen, liebenswerten Menschen sitzen sollte – das war nicht sie. Nicht Marianne Lanz, verheiratete Messmann, aus Celle. Die Frau, die Zeitschriften aus Altpapiercontainern las und abgelaufene Lebensmittel aß. Die nichts geschafft hatte. Die nur vorgetäuscht war.
Sie hatte sich nur eingebildet, etwas Besonderes zu sein; aber sie war nicht anders als die letzten sechzig Jahre davor.
Lothar war ihr Leben. Und als er gekommen war, hatte er sie daran erinnert, wer sie wirklich war, woher sie kam und was immer in ihr sein würde, egal, wie sehr sie sich schminkte oder auf Bühnen herumkokettierte. Das hier – das war nur ein Schauspiel.
Sie hatte ihr Quantum Glück gehabt; für mehr war sie doch gar nicht bestimmt. Nicht für dieses Land, nicht für diesen Mann mit den Meeresaugen, nicht für diesen Platz unter diesen großartigen Menschen, die um so vieles größer und wunderbarer waren als sie.
»Kommen Sie! Sonst fangen wir nicht an und werden verhungern!«, rief Alain.
Marianne kämmte sich verzagt das Haar, zog ein weißes Kleid an, spülte sich den Mund aus und kniff sich in die Wangen, anstatt Rouge und Lippenstift aufzutragen, wie sie es in den vergangenen Wochen so gern getan hatte.
Die fremde Frau, die ihr nun aus dem Spiegel in die Augen sah, lächelte nicht. Sie war grau, und ihre Augen waren leer.
»Ich bin nicht du. Und du bist tot«, sagte Marianne.
Ich habe nur so lange gelebt, wie du es wolltest, schien ihr die Unbekannte zu sagen, die sie für sich selbst gehalten hatte.
Hinter ihr erschien Lothar und sagte ihr direkt in ihre Augen im Spiegel hinein: »Ich liebe dich. Heirate mich noch einmal.«
Als sie sich dem Tisch näherten, stand Jeanremy mit einem Glas Crémant in der Hand auf.
»Auf Marianne. Sie kann Akkordeon spielen, Kinder in Küchen auf die Welt bringen und das Salz aus der Suppe holen.«
»Und Dumme schlau machen«, rief Geneviève, und alle lachten.
»Und die Normalen verrückt«, ergänzte Pascale. »Oder war es andersrum?«, fragte sie ihren Mann.
Wie Jeanremy standen alle anderen auf, Emile gestützt auf Pascale, und sie alle erhoben Gläser und bols.
»Auf Mariann«, sagten sie im Chor.
Marianne wusste nicht, wohin sie sehen sollte. Es war schier unerträglich, dass sie sie mochten und bewunderten; Marianne wand sich vor Scham.
Ich bin eine Betrügerin. Ich bin nicht mal ein Schatten dessen, was sie in mir sehen. Ich lüge sie an. Ich bin
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