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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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Gerberei, wo sie mich die Laterne halten ließ, während sie die Lehrlinge einen nach dem anderen über sich drüberließ. Einen nach dem anderen, mitten in dem Gestank nach Tod und Fett und Haar, an diesem blutigen Ort, einen nach dem anderen. Sie bestrafte mich – meine Strafe war es zuzusehen, ihre glänzenden Augen, die gefletschten Zähne, das Nachthemd, das hochgerutscht war, ihre Schenkel, groß, nackt, muskelbepackt, im Licht der Laterne schimmernd, die ich hielt, und wenn ich wegschaute, zischte sie mich wütend an. Was die Jungen mit ihr taten, das tat sie mir an. Sie zwang mich zuzuschauen. Doch wenn einer versuchte, mich zu berühren, schlug sie ihn heftig. Sie zwang mich zuzuschauen.
    Dann kam die Nacht, in der unser Vater uns erwischte. Mich, zitternd, weinend, wie ich versuchte, nicht hinzuschauen, sie, die das nicht zuließ, die Laterne, die ein schwankendes Licht verbreitete, ein Lehrjunge, grunzend wie ein Schwein hinter ihr, die beiden anderen lachend, auf einem Stapel Rinde herumlungernd, und dann mein Vater, ganz groß und still, in der Tür. Sein eines Auge glitzernd.
    «Cinnamon, ins Haus», sagte er. Ich entfloh, die Laterne baumelte wild in meiner Hand, die Lehrjungen mir hinterher, so liefen wir über die Wiese. Ich sah von unserem Schlafzimmerfenster aus zu, wie mein
Vater herauskam, Ginger am Haar herauszog. Wenn sie fiel, zog er sie an den Haaren wieder hoch. Dunkles Blut auf ihrem Gesicht, an ihren Beinen. Er schleuderte sie so fest gegen die seitliche Hauswand, dass sie wieder hinfiel. Er ging hinein. Ich sah sie dort liegen, in ihrem weißen Nachthemd im dunklen Gras, während er hineinging. Seine Schritte auf der Treppe. Ich zitterte, bis er sich in sein Zimmer eingeschlossen hatte, um mit lauter Stimme aus der Bibel zu lesen. Ich ging zu Bett. Am nächsten Morgen war sie fort.
    Keiner erwähnte sie mehr mit einem Wort. Keiner – nicht meine Mutter, nicht mein Vater. Es war, als hätte sie nie existiert. Und als sie zurückkehrte, in jenem Schneesturm, sah ich meinen ersten Geist – dabei ist sie Wirklichkeit, ich spüre sie, ganz nah, hier bei mir, dunkel und widerwärtig, es macht uns alle krank, das, was ich nicht getan habe, um sie zu retten, was ich nicht tun konnte, was ich jetzt nicht tun kann. Sie macht diese Stadt krank. Sie steckt diese Stadt mit ihrer Lasterhaftigkeit an. Sie ruft meine toten Ehemänner auf den Plan. Ich sehe von meinem Fenster aus, wie die Stadt dahinsiecht – sehe die Blässe, die ungesunde gelbe Farbe, die über ihr liegt, sehe die Männer umherlaufen, mit Unzucht im Sinn. Krank, so krank.
    Sie werden schockiert sein, gut. Auch Sie wird das krank machen. Doch nicht annähernd so krank wie mich. Und glauben Sie nach dieser Geschichte wirklich immer noch, dass Ihr Franzose irgendeine Bedeutung hat? Bemitleidenswert, Sie kleines Mädchen.
    Nein, das werde ich Ihnen nicht schicken. Es ist einfach zu verrückt, selbst Sie mit Ihrem freundlichen Herzen werden es nicht ertragen. Ich kann das nicht schicken. Ich werde diesen Brief einschließen, ihn zu Ihren charmanten, banalen Schreiben legen. Er wird Ihre Briefe anstecken. Er wird sie krank machen. Dieser Brief ist zu verrückt, selbst für mich, eine Frau, die man anstarrt, fasziniert von der Wildheit in mir – ich weiß es – ich fühle es. Oh, Charlotte Temple, Sie mit Ihrem verschämten Gesichtchen, Sie wünschten sich, so wild zu sein wie ich. Sie haben keine Geheimnisse, keine Tiefe. Ohne Ihre Familie, ohne Ihr
Geld sind Sie nichts, nichts. Ich könnte Ihnen das ein oder andere beibringen.
    Und da dieser Brief Sie nie erreichen wird, kann ich es hier auch sagen – ich hasste, ja ich
hasste
den einzigen Roman, den ich je von Silas Merrill gelesen habe, Ihrem Alter Ego, Ihrem Pseudonym. Törichte Nichtigkeiten. Sie nennen sich selbst Schriftstellerin – dabei wissen Sie gar nichts. Warum dies unterzeichnen? Es wird nie abgeschickt werden. Es würde tödlich für Sie sein, und ich möchte nicht, dass Sie sterben.
    ***
    Aus der Feder von Charlotte Temple, Franklin House, Blackbird Bay, Templeton
28. Januar 1862
    Meine liebste Cinnamon,
ach, meine Liebe, ich mache mir solche Sorgen um Sie! Nun sind es schon drei Wochen, und Sie haben noch nicht auf meinen Brief geantwortet. Zuerst befürchtete ich, Sie könnten verärgert sein, weil ich so lange nicht geschrieben hatte. Doch dann fiel mir ein, wie bestürzt Sie von der Rückkehr Ihrer Schwester gewesen waren, und mittlerweile begreife ich, dass Sie

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