Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
Vom Netzwerk:
kollektiven Erinnerung herumgeistern und von denen die Einwohner einer kleinen Stadt manchmal wissen, ohne dass man es ihnen jemals gesagt hat.
    Als ich endlich, immer noch benommen, von den Briefen aufblickte und aus dem Fenster sah, hinaus auf die dunkle, schlafende Stadt, bemerkte ich noch eine andere Veränderung. Ich hatte das Gefühl, als würde ich mich aus meinem Körper erheben, durch das Dach hinaus, und als ich dann hinabblickte, sah ich ein ganz anderes Templeton, in dem schon in aller Herrgottsfrühe emsiges Treiben herrschte. Ich hörte das Schnarchen der schlafenden Regimentssoldaten auf den Feldern unten am Fluss, das Knirschen der Stiefel der Nachtwachen auf demgefrorenen Grund. Ich konnte die Main Street sehen, auf der immer noch Betrunkene umherwuselten, wie hart gepanzerte Insekten im silbrigen Licht des Mondes. Es war eine ganz andere Main Street, als ich sie kannte, aus der Zeit vor dem großen Brand, den Charlotte irgendwie verursacht hatte: Die Gebäude sahen alle ganz anders aus, und ein großes Hotel ragte senkrecht an der Kreuzung Pioneer/Main empor. Eine Reihe von Männern schlängelte sich hinter einem größeren Gebäude hervor, dem Lederstrumpf-Hotel, und selbst von oben konnte ich ihr gedämpftes Gemurmel hören. Oben auf dem Hügel, gegenüber der presbyterianischen Kirche, befand sich ein riesiges Gebäude, in dessen oberstem Stockwerk Reihe um Reihe schlafende Jungen lagen, der Schlafsaal der Akademie. Schwindsüchtige saßen auf der Veranda des Otesaga-Hotels, um die frische Morgenluft einzuatmen. In den hinteren Trakten der großen Stadtvillen brannten Laternen, Bedienstete waren bereits auf und mit dem Backen der täglichen Brotration beschäftigt. In der Stadt war es kalt, es muss Winter gewesen sein, doch sie pulsierte dennoch vor Leben. Es roch nach brennendem Holz und getautem Eis, nach dem starken, knoblauchartigen Gestank vieler menschlicher Körper auf kleinem Raum, nach ihrem Atem. Das hier war Cinnamons und Charlottes Templeton, ein aufregender Ort in jener Zeit des Krieges. Hätte ich damals in jener betriebsamen Stadt gelebt, so hätte ich bestimmt geglaubt, Templeton würde auch noch hundertfünfzig Jahre später eine geschäftige, bedeutsame Stadt sein anstelle des abgeschiedenen Örtchens, das es heute ist.
    Meine Mutter hatte mir, nach der Schicht der vergangenen Nacht, still und leise mein Abendessen auf einem Tablett vor die Tür gestellt, als sie sah, dass ich nicht herunterkam. Ich war so abgelenkt, dass ich nicht einmal merkte, dass ich ein ganzes Stück Quiche verdrückt hatte – ein Gericht, das ich sonst verabscheue –, bis sie zurückkam, um das Tablett abzuholen, und vor Überraschung gluckste, als sie sah, dass das Essen verschwunden war. Ich hörte, wie sie um neun zu Bett ging und das Haus mit seinem großen Knirschen und Ächzen begann, als hätte es bereits dreihundert Jahre rheumatische Schmerzen in seinen Pfeilern und Balken. Ich bedauerte, mich beim Aufwachen in meinem modernen, touristischen Dorf wiederzufinden, obwohl an diesem Morgen der Nebel vom Sonnenaufgang beschienen wurde wie von einer Lampe unter einer Schicht Watte.

    Während meine Mutter sich ausschlief, arbeitete ich im Garten. Ich musste immer noch Cinnamon und Charlotte verdauen und wollte keine weiteren Schritte unternehmen, ohne vorher mit Vi gesprochen zu haben. Es galt noch so vieles herauszufinden: ob Henry tatsächlich Charlottes Sohn war und nicht das adoptierte Kind einer ihrer Schwestern; ob Charlotte wirklich Brandstifterin gewesen war; und ob es stimmte, dass Cinnamon ihre zahlreichen Ehemänner umgebracht hatte. Mit großer Wahrscheinlichkeit konnte ich jedenfalls ausschließen, dass eine der beiden Damen Vorfahrin meines Vaters war, aber das würde ich erst dann mit Sicherheit wissen, wenn Vi es mir sagte.
    So pflückte ich also Bohnen und Tomaten, die vor Saft nur so strotzten. Ich jätete Unkraut zwischen den Salatkopfreihen und fand zarte junge Kürbisse unter den breiten Blättern. Ich füllte einen kleinen Behälter mit Himbeeren und zerdrückte jede Menge Japankäfer mit ihren kupferfarbenen Panzern zwischen zwei blutigen Steinen. Bei meiner Rückkehr ins Haus war meine Mutter aufgestanden und trällerte unter der Dusche. Als ich auf dem Weg nach oben war, um mich zu waschen und umzuziehen, und durch das Esszimmer kam, sah ich einen Brief im Maul des kleinen Spielzeugpferdes auf dem Esstisch stecken, den Vi in einem bizarren Anflug von Leichtfertigkeit dorthin

Weitere Kostenlose Bücher