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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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getan hatte. Der Brief war an mich adressiert.
    Willie Upton, Templeton, NY,
stand da nur.
    Und es war Primus Dwyers Handschrift.
    Und der Brief war in Alaska abgestempelt.
    So weit war ich gekommen, als meine Mutter in der Tür stand und sich mit einem Handtuch die Haare rubbelte. «Wow», sagte sie, «Willie»,denn genau in diesem Moment ging ich in freiem Fall zu Boden, den Brief immer noch mit der Hand umklammert.
    Als ich wieder klar sehen konnte, hatte sie mich auf einen der Esszimmerstühle gehievt und saß mit gerunzelter Stirn mir gegenüber am Tisch. Der Umschlag war aufgerissen, und sie war dabei, den Brief zu überfliegen.
    «Vi?», sagte ich. «Das ist meiner.»
    Sie faltete das Schreiben wieder zusammen und hob eine Augenbraue. «Vielleicht», erwiderte sie. «Aber ich bin mir nicht sicher, ob du ihn sehen willst.»
    «Oh», machte ich kleinlaut. «Oh-oh.»
    «Soll ich ihn dir vorlesen?», fragte sie, und erst jetzt bemerkte ich, dass sie wütend war. Sehr, sehr wütend und zur Abwechslung einmal nicht auf mich.
    «Okay», antwortete ich, aber sie hatte bereits begonnen.
    «
Wilhelmina
», las sie mit abgehackter Stimme, «
ich kann gar nicht glauben, was geschehen ist. Hoffe, Du weißt, wie leid es mir tut. Die arme Jan will immer noch Anzeige erstatten, hat sich aber etwas beruhigt. Noch eine Woche, das garantiere ich Dir, und alles ist in Ordnung. Fahre nächste Woche nach Fairbanks und werde versuchen, Dich anzurufen. Hier hat es große Neuigkeiten gegeben – na ja, Du weißt schon, was ich meine. Mach Dir keine Gedanken, Du wirst auch namentlich genannt. Scheinst ja richtig fotogen zu sein – vielleicht kannst Du ja für uns ins Frühstücksfernsehen gehen, so ein hübsches Mädchen wie Du. Besser als alte fette Profs und dämliche Geisteswissenschaftler. Ha ha! Ach Willie, das haben wir aber ganz schön vermasselt, was? Hoffentlich hasst Du mich nicht. Ich hab Dir verziehen, denn ich weiß, dass Du nur unter den Nachwehen dessen gelitten hast, was zwischen uns war, als Du versucht hast, die arme Jan über den Haufen zu fahren. Aber jetzt muss ich weiter (natürlich weiß niemand, dass ich dies hier schreibe), aber ich denke oft an Dich. Herzlichst, Dein Primus
    Ich starrte meine Mutter an, und sie starrte sofort zurück. Das Klümpchen drehte und wendete sich in mir, hart wie ein Krampf. Ich riss Vi den Brief aus der Hand und las ihn noch weitere drei Male, spürte jedoch erst beim dritten Mal, wie verletzend er eigentlich war. Und dann stand ich auf, lief ins Bad und kotzte mir mein improvisiertes Mittagessen aus Gartengemüse aus dem Leib. Als ich zurückkam, sagte meine Mutter nichts. Sie streckte nur ihre weichen Arme aus, und ich legte den Kopf an ihre Schulter und kuschelte mein Gesicht in ihren sauberen Geruch. So standen wir lange da in der Diele, mein Gesicht an ihrem Hals, die Körper aneinandergepresst, ihr Kreuz bohrte sich in die Haut unserer Bäuche, bis ich es schließlich zur Seite schob.
    «Solche Arschlöcher», sagte sie, und ihre Stimme spülte warm über das Pochen ihres Herzens hinweg, «sind genau der Grund, warum, ganz egal, was John sagt, es völlig normal ist, wenn manche Frauen – na ja, du weißt schon … werden.»
    «Lesben», sagte ich, an ihre Haut gedrückt.
    «Genau», sagte sie. «Bloß wegen solch unsensibler Trampel wie dieser Primus.»
    «Ja», sagte ich und machte mich los. Plötzlich fühlte ich mich sehr klein und sehr, sehr zerbrechlich. «Um ehrlich zu sein, bin ich sehr versucht, dieses ganze Y-Chromosom endgültig in den Wind zu schießen.»
    Meine Mutter legte die Hände an mein Gesicht und schaute in meine Augen hoch. «Aprrropos schießen», sagte sie, mit einem grauenvollen italienischen Mafiosi-Akzent, «ich habe immerrrr noch ein paarrrr Beziehungen nach San Frrrancisco. Wenn du willst, können meine Frrreunde ihm ein Angebot machen, das errr nicht ablehnen kann. Peng peng. Ruuhe in Frieden.»
    «Klingt super», sagte ich, und wir lachten beide ein bisschen. Ein Reisebus mit Baseballfans an Bord fuhr ächzend an unserem Haus vorbei. Auf dem Fensterbrett neben uns versuchte sich eine Spottdrossel an einem zaghaften Trillern. Als sie sich bewegte, baumelteVis Kruzifix über ihrem Bauch hin und her, wie ein Pendel, das die Sekunden zählt.
    An diesem Abend unternahmen meine Mutter und ich einen langen Spaziergang durch Templeton. Es dämmerte, wurde ganz dunkel, und überall in den Fenstern der Herrenhäuser begann es zu funkeln. Nach der Hitze

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