Die Monster von Templeton
der Stadt. Und wie sich ihre Abgeschiedenheit noch verstärkt hatte durch die Tatsache, dass sie in jenem protzigen alten Haus wohnte, dabei aber völlig mittellos war. Als ich aufwuchs, verfügten wir über einen Pool, den meine Großeltern gebaut hatten, um mit ihren Freunden aus dem Country Club mithalten zu können, ein Grundstück von einem Hektar Fläche mitten in der Stadt, einen See, an dem man den ganzen Sommer über spielen konnte, und sowohl zum Bäcker als auch zum Lebensmittelladen war es nur ein Katzensprung. All das waren gewaltige Privilegien. Und doch klaubte ich mir meine Klamotten aus einer Wohltätigkeitstonne im Keller der presbyterianischen Kirche, und wenn es hart auf hart kam, musste ich mit Spendenmarken zum Lebensmittelladen der Wohlfahrt laufen, um Käse für uns zu ergattern. Ich würde Willie Upton sein, das Mädchen, das mit all den berühmten Leuten verwandt war, der Liebling jedes Geschichtslehrers, die Schülerin, die jeden Sommer vom NYSHA für den Empfang angeheuert wurde, damit sie den Schriftstellern, die zu Besuch kamen, die Räume zeigte, aber ich war auch ein Mädchen, das sich für die Turnstunde in einer Toilettenkabine umzog, weil es sich für seine abgetragene Unterwäsche schämte.
Auch das jedoch hielt Vivienne durchaus für förderlich; ihre bevorzugte Erziehungsmethode war eine Mischung aus baumelnder Karotte und einem gelegentlichen Tritt mit den Sporen. «Nichts», pflegte sie zu sagen, «wird wirklich gelernt, wenn man nicht ein bisschen was dafür tun muss», und so kam es, dass ich an jedem (heidnisch gefeierten) Weihnachtsfest dazu verdonnert wurde, das Einwickelpapier glatt zu streichen, zu wiederverwertbaren Vierecken zu falten und die Bänder zu ordentlichen kleinen Knäueln aufzurollen, bevor ich mit meinen neuen Spielsachen spielen durfte, bei denen es sich zum größten Teil um handgeschnitzte Enten aus dem Holz sowieso schon maroder Ahornbäume aus Vermont, um gestrickte Püppchen von guatemaltekischen Gewaltopfern und ähnlichen Kram handelte. Einmal dann, als ich sechs war und durch das laute Vortragen von Anne Sextons
Verwandlungen
das Buchstabieren von langen Wörtern übte, stolperte ich über den Ausdruck
Prophezeiungen.
Ich seufzte, pustete mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte: «Das schaff ich nicht.»
Vi lächelte ungerührt über ihrer Strickarbeit und sagte: «Natürlich kannst du das, Sunshine.»
Ich schleuderte das Buch quer durchs Zimmer. «Nein», sagte ich. «Kann ich nicht.»
Meine Mutter schürzte die Lippen, stand auf, ging in die Küche, bestrich einen ganzen Teller Vollkornweizenkräcker mit naturbelassener Erdnussbutter und Biohonig und kam zurück. Dann begann sie ganz langsam und unter genüsslichen Seufzern einen Kräcker nach dem anderen zu verspeisen, bis ich schließlich aufstand und die Hand nach dem Teller ausstreckte. Doch sie zog ihn einfach weg, schlug das Buch auf und legte es mir wieder auf den Schoß.
Ich wusste, was sie tat; ich weigerte mich, das Wort zu lesen, ums Verrecken würde ich es nicht lesen, dieses fiese, miese ellenlange Wort. Und so schaute ich Vi dabei zu, wie sie auf ihrem Snack herumkaute, wie ihre Augenlider vor Genuss flatterten, wie sie sich die Finger ableckte und brummte: «Ach, das ist wirklich der leckerste Kräckerschmecker,den ich je gegessen habe», bis schließlich nur noch ein einziger übrig war und ich es nicht mehr aushielt und ihr all die verschiedenen Möglichkeiten vorbuchstabierte:
Bro-fe-zei-hungen, Pro-fezei-ungen, Bro-phe-zei-hungen,
bis ich es schließlich raus hatte, und da lächelte sie und reichte mir den Kräcker, den ich gierig mit einem Happs verschlang.
Aber sie hatte wirklich recht; es
war
der leckerste Kräckerschmecker, den ich jemals gegessen hatte. In jenen Jahren hatte Vi immer recht, auch wenn ich mich oft gegen sie auflehnte. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie sich täuschte; in jenen ersten Jahren war meine Mutter meine einzige Freundin und ich die ihre. Als ich jedoch endlich den Kindergarten hinter mir hatte, machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester in Oneonta und übernahm einen Job am Finch Hospital in der Stadt, und auf einmal erweiterte sich ihr Horizont. Plötzlich hatte sie Freundinnen, Frauen, die mit ihr bei Kaffee und Kuchen zusammensaßen, einander den Rücken massierten und sich gegenseitig etwas vorjammerten. Ab und zu, während der Highschool, hatte ich den Verdacht, diese Frauen könnten mehr sein als nur
Weitere Kostenlose Bücher