Die Monster von Templeton
fester.
«Vi», sagte ich sehr leise. «Es ist Solomon Falconer, stimmt’s?»
«Was?», schnappte sie und wandte den Blick ab.
«Vi», sagte ich und ließ ihre Hand los. Ich legte sowohl die Abschrift aus
Schatten und Fragmente
auf den Tisch, die Clarissa gemacht hatte, als auch Guvnors kleines Schriftstück auf Pergament, und begann so schnell zu reden, dass sich die Worte überschlugen wie kleine Wellen. Ich sagte: «Schau mal, Vi, ich hab’s herausgefunden. Hier», sagte ich und zeigte ihr Guvnors Brieflein, obwohl ihre Augen weghuschten. «Vi, schau mal. Guvnor Averell schrieb das in der Nacht, als Marmaduke Temple starb. Hier steht, dass in der Nacht von MarmadukesErmordung ein kleines Mädchen mit roten Haaren auf die Welt kam und dass wegen des roten Haars jeder annahm, es sei Marmadukes Kind, obwohl die Mutter mit jemandem namens Davey Shipman verheiratet war. Innerhalb von Sekunden wusste jeder in der Stadt, dass Marmaduke mit der Frau eines anderen ein Kind gezeugt hatte; und aus diesem Grund wurde er auch in jener Nacht ermordet. Und nun hör mal zu: Dieses kleine Mädchen wurde Euphonia Shipman getauft. An den Namen Euphonia Shipman erinnerte ich mich durch etwas anderes, das ich gelesen hatte», sagte ich, mittlerweile ziemlich laut in meiner Begeisterung, und wedelte dabei mit Clarissas Auszug aus
Schatten und Fragmente
vor ihr herum. «Und in Charlottes Bemerkungen am Ende dieses kleinen Stücks heißt es: ‹
Euphonia Falconer, geborene Shipman, wurde ein begeistertes Mitglied des methodistischen Chors
›… Vi, hörst du mir zu? Da steht, Euphonia
Falconer
, geborene
Shipman
, und das bedeutet, dass sie, Euphonia Shipman, Marmadukes uneheliche Tochter, mit einem alten Siedler namens Solomon Falconer verheiratet wurde. Solomon Falconer! Jeder weiß, dass Euphonia Falconers Sohn Solomon hieß; ebenso wie dessen Sohn und so weiter, und die Linie geht so weiter bis zu Solomon Falconer dem Fünften, dem Laufkumpel, meinem Freund, der am Ende
mein Vater
ist. Vivienne Upton, du hast mit Solomon Falconer geschlafen. Solomon Falconer ist
mein Vater.»
Reverend Milky, der es noch nicht bis aufs Klo geschafft hatte, hielt in diesem Moment laut die Luft an, wie ein kleines Mädchen, und kam schnurstracks an den Tisch zurück. Clarissa hatte die Hände vor den Mund geschlagen und schaute mich mit feuchten Augen an. Meine Mutter machte Glubschaugen. Und wir alle warteten so angespannt, dass unsere Körper straff waren wie Gummibänder, bis Vi zu zittern begann. Sie streckte die Hand aus und berührte mein Gesicht. Und dann sagte sie, mit einer Verwunderung in der Stimme, die wohltönend war wie der Klang einer Glocke: «Ach,Sunshine. Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben. Du hast es rausgekriegt, ja, das hast du, du hast es wirklich rausgekriegt.»
Die Fäden ordnen
Alles auf Anfang: Die junge Vivienne, mit Akne geschlagen, in einem Bus, der aus San Francisco nach Hause rast, das Friedensmedaillon, das über ihrem Bauch baumelt. Sie war damals definitiv nicht schwanger. Es gab kein Ich-Klümpchen, nirgendwo in ihr. Ich hatte immer schon gedacht, es sei etwas faul an der Geschichte, dass ich zehneinhalb Monate in ihrem Bauch gewesen sein sollte.
Als Vi den alten Rechtsanwalt Chauncey Todd aufsuchte und von seinen Blicken liebkost wurde, war sie nicht schwanger. Nicht schwanger verpasste sie das Begräbnis ihrer Eltern, besuchte jedoch die Gedenkfeier und schüttelte wie betäubt den kondolierenden Gästen die Hand. Und sie war auch nicht schwanger, als die Honoratiorinnen der Stadt abfällige, latent boshafte Bemerkungen machten und ihr dabei tröstend die Hände hielten.
Ach, Vivienne,
sagten sie.
Deine liebe Mutter war immer so flott angezogen; ich bin mir sicher, du würdest auch in ihre Größe passen, wenn du nur ein bisschen mehr auf dich achten würdest.
Und:
Deine Eltern haben sich so darauf gefreut, dass du letztes Weihnachten zu ihnen nach Hause kommen würdest; wie schade, dass du es damals nicht geschafft hast, sie vor ihrem Tod noch mal zu sehen.
Und:
Was ist das für ein Parfüm, das du trägst, Liebes? Patschuli? Wie überaus … faszinierend.
Obwohl sie damals durchaus den Verdacht hatte, sie könnte schwanger sein, war sie es nicht; sie mochte einfach nur Butter und Donuts,schon damals. In den darauffolgenden Jahren würde ihr das bei ihrem Alibi zugute kommen.
Der Winter schmolz dahin und wurde zum Vorfrühling. Vögel flatterten in den Bäumen, trillerten
Weitere Kostenlose Bücher