Die Moralisten
ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit. »Leg dich neben mich und gib mir einen Kuß.«
Ich streckte mich neben ihr aus und nahm sie in die Arme. Ihr Körper war warm und weich, und als wir uns berührten, war es, als wenn knisternde Funken übersprangen. Ich war gekauft und bezahlt, und ich sorgte dafür, daß sie in dieser Nacht auf ihre Kosten kam.
In der langsam dahinschleichenden Woche zwischen Weihnachten und Neujahr begann die Untätigkeit besonders an meinen Nerven zu zerren. Das Ende war nahe. Das spürte ich. Es mußte bald kommen. Und es kam - eher, als ich erwartet hatte.
Es war Silvester. Jeder war beschwipst - außer mir. Wie das kam, weiß ich auch nicht. Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, so blau zu werden wie ein Veilchen, aber je mehr ich trank, desto weniger Wirkung verspürte ich. Wir saßen in einem Nachtklub im Village. Marianne, alle ihre Freunde und ich. Plötzlich sah ich die ganze Szene wie ein Außenstehender, leicht amüsiert über das kindliche Gehaben dieser jungen Leute, die so angestrengt zu zeigen versuchten, daß sie glücklich waren, und die doch Angst hatten. Angst vor morgen! Ich mußte laut lachen! Das war genau das, was ich auch hatte: Angst vor morgen.
Der Abend rückte vor. Die Lichter wurden abgeblendet und erloschen dann ganz. Das Orchester spielte Auld Lang Syne. Und plötzlich lag Marianne in meinen Armen, und wir hielten uns eng umschlungen. Wir empfanden wohltuend die gegenseitige Wärme und küßten uns.
»Ich liebe dich, Liebster«, flüsterten ihre Lippen unter den meinen. »Ein glückliches neues Jahr!«
»Ich liebe dich«, hörte ich mich selbst sagen. »Glückliches neues Jahr!« Ich küßte sie auf die Wange, die von Tränen naß war. Ich konnte das Salz ihrer Tränen auf meiner Zunge schmecken. Sie hatte von Anfang an gespürt, daß es zu Ende war.
»Geh nicht fort, Liebster, bitte, geh nicht fort.«
»Ich muß gehen«, flüsterte ich. »Es geht nicht anders. Ich kann es nicht ändern.«
Die Lichter flammten wieder auf, und wir standen da und starrten einander an. Sie war blaß, und ihre Augen waren groß und voller Tränen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich konnte nicht sprechen. Nur unsere Hände waren eng verschlungen, als wir uns hinsetzten.
Kurz darauf verließen wir die Party und gingen schweigend nach Haus. Die Nacht war hell und klar und neu. Millionen von Sternen glitzerten am Himmel. Die Luft war neu, alles war neu -es war das Jahr 1934. Schweigend betraten wir die Wohnung.
Ich zog meinen Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl. Dann holte ich meinen Koffer aus dem Schrank und legte ihn offen aufs Bett.
Wortlos reichte sie mir meine Sachen: Hemden, Schuhe, Strümpfe, Krawatten, Pyjamas und Anzüge. Ich preßte ein Knie auf den Deckel des Koffers und hörte, wie die Schlösser einschnappten.
Ich richtete mich auf und sah ihr ins Gesicht. Meine Stimme zitterte ein wenig, als ich sagte: »Ich glaube, dies ist nun der Abschied.«
Sie warf sich leidenschaftlich in meine Arme. »Nein! Frank, nein! Du darfst nicht gehen! Ich brauche dich!«
Sie weinte - es war das erste Mal, daß ich sie richtig weinen sah. »Wir wollen ganz zärtlich voneinander Abschied nehmen«, schluchzte sie. »Auch unser Abschied soll schön sein.« Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter. Die Lampe verlosch. Wir vergaßen Zeit und Stunde und erlebten unser ganzes gemeinsames Dasein noch einmal. Und dann stand ich, den Koffer in der Hand, verlegen an der Tür, wie ein Fremder, der nach einem langen, unerwarteten Besuch wieder abreist.
»Einen Augenblick«, sagte sie und ging zurück. Dann brachte sie Gerros Porträt und drückte es mir in die freie Hand.
Für den Bruchteil einer Sekunde stand sie da, dann küßte sie mich rasch, leidenschaftlich auf den Mund. Und ich trat aus der Tür, die sie sanft hinter mir schloß. Ich hörte noch ihr leises Schluchzen, als ich langsam den Flur hinunterging und auf die Straße trat.
Ich sah zum Himmel auf. Die Sterne funkelten. Aber im Osten dämmerte es. Ein neuer Tag brach an. Ein strahlender, neuer Tag. Ich ging ihm voller Vertrauen entgegen. Ich hatte keine Pläne für heute oder für morgen.
Als ich etwa fünf Häuserblocks gegangen war, kam mir zum Bewußtsein, daß ich immer noch Gerros Bild in der Hand hielt. Ich steckte es in die Tasche. Allmählich spürte ich Hunger, und ich war müde, denn ich hatte in der letzten Nacht überhaupt nicht geschlafen. An der nächsten Ecke sah ich das Licht einer Nacht-Imbißstube
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