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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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hatte um alles mögliche Schlange gestanden: um Brot, um Suppe, um Arbeit. Aber ich hatte keine Arbeit gefunden, nicht einmal für einen Tag.
    Eines Nachts schlief ich in einem Hausflur und wurde frühmorgens, naß, hungrig und elend, vom Hausverwalter, der saubermachen wollte, hinausgejagt. In einem gutturalen, fremdländisch klingenden Englisch warf er mir mit lauter Stimme Verwünschungen an den Kopf und drohte mir dabei mit dem Besen. »Ihr Gammler!« schrie er hinter mir her, als ich mich wie ein Dieb hinausschlich. Ich hatte nur ein bißchen Nachtruhe gestohlen - ein wenig Frieden.
    Mir war kalt, und ich hatte Hunger. Unwillkürlich suchte ich nach einer Zigarette, aber ich hatte keine mehr. Ich ging am Rinnstein entlang und suchte nach einem Stummel. Schließlich entdeckte ich einen. Ein Mann kam die Straße herab. Er sah aus, als ob er vielleicht etwas herausrücken würde. Ich beobachtete ihn, wie er auf mich zukam und an mir vorbeiging, während ich regungslos wie angewurzelt dastand. Hinterher machte ich mir bittere Vorwürfe. Warum hatte ich ihn nicht angesprochen? Es gehörte nicht viel dazu. Man brauchte nur in wehleidigem Ton zu sagen: »Mister?« Mehr brauchte man nicht zu sagen. Sie wußten Bescheid. Aber ich konnte mich nicht dazu überwinden.
    Geh zurück zu Marianne - Marianne. Sie wird dich wieder aufnehmen. Dann wirst du dich wieder behaglich fühlen. Warm und satt. Und eine Frau hast du auch noch. Mein Gott, wie das wohl wäre, w?nn man jetzt eine Frau hätte. Ich mußte lachen. Wonach sehnst du dich mehr, überlegte ich, nach einer Frau oder einem Steak? Ich mußte wieder lachen. Der Gedanke an den Duft eines brutzelnden Steaks machte mir den Mund wässerig.
    Ich stand wieder vor ihrer Tür und läutete. Und ich überlegte mir, was ich wohl sagen könnte. »Marianne, ich bin hungrig und müde, und ich friere. Bitte, laß mich ein. Bitte, nimm mich wieder auf. Ich geh nie wieder weg - nie mehr. Bitte, Marianne, bitte.«
    Und wenn sie dann sagen würde: »Nein, verschwinde!«?
    Aber das konnte sie nicht. Sie gehörte zu mir. Hatte sie das nicht selbst gesagt?
    Nach einer Ewigkeit öffnete sich die Tür.
    »Nein, Miss Renoir wohnt nicht mehr hier. Sie ist im vergangenen Monat nach Haiti zurückgekehrt. Tut mir leid.«
    Die Tür schloß sich wieder. Ich starrte eine Weile auf die geschlossene Tür. Dann ging ich. Aber nach wenigen Minuten schon stolperte ich und begann zu fallen. Und dann war Nacht
    um mich, Neujahrsnacht. Millionen Sterne winkten und blickten zu mir herunter. Das war mein Morgen - meine Zukunft.
    Sie legten mich in ein Bett in einem langen, grauen Raum, in dem noch etwa vierzig andere Betten standen. Der Arzt machte am Abend seine Runde und untersuchte mich. Eine Schwester begleitete ihn. Er stand neben meinem Bett und sah mich an. »Wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte er.
    »Besser«, sagte ich. »Hungern ist nicht sehr zu empfehlen«, meinte er.
    Das war für mich nichts Neues. Ich sagte darum nichts.
    Er wandte sich an die Schwester. »Sie lassen am besten die Dame von der Registratur kommen. Wir wollen ihn ein paar Tage hierbehalten.« Dann wandte er sich wieder an mich. »Ruhen Sie sich mal richtig aus. Haben Sie noch irgendeinen Wunsch?«
    »Zigaretten?« fragte ich.
    Er fischte aus seiner Tasche ein halbvolles Päckchen Camels und warf es zusammen mit Streichhölzern auf mein Bett. »Sie können sie behalten. Aber lassen Sie sich nicht von der Schwester erwischen. Und stecken Sie möglichst nicht das Haus in Brand.« Er zuckte die Achseln und ließ einen vielsagenden Blick durch den Raum gleiten. »Auch wenn es so aussieht, als ob das kein Verlust wäre.«
    Er ging weiter, und die Schwester folgte ihm. Er sah wie ein netter Junge aus, und es tat mir leid, daß ich nicht daran gedacht hatte, mich für die Zigaretten zu bedanken. Ich wartete, bis sie die Station verlassen hatten, ehe ich mir eine Zigarette anzündete. Dann lehnte ich mich zurück und paffte sie langsam. Zigaretten aus einem Päckchen schmecken besser als die Kippen, die man auf der Straße sammelt.
    Als die Zigarette aufgeraucht war, drückte ich sie auf einem
    Teller neben meinem Bett aus. Dann lehnte ich mich in die Kissen zurück und genoß all diesen Komfort. Es war erstaunlich, wie wohl man sich fühlte mit einem vollen Magen, einem weichen Bett und einer Zigarette.
    Eine Stimme neben meinem Bett sagte leise: »Sind Sie wach?«
    Ich schlug die Augen auf. Ein Mädchen mit Bleistift und Notizblock saß

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