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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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neben meinem Bett. »Ja«, sagte ich.
    »Ich bin Miss Cabell«, sagte sie. »Ich hätte sie nicht gestört, wenn Sie geschlafen hätten, aber wir müssen ein paar Formulare ausfüllen.«
    »O. k. Schießen Sie los.« Sie erschien mir irgendwie vertraut. Sie trug ein bräunliches Kostüm von sehr männlichem Schnitt, eine weiße Bluse und eine große Hornbrille.
    »Ihr Name, bitte?« fragte sie und fügte entschuldigend hinzu: »In Ihrem Anzug war leider kein Namensschild.«
    »Kane«, sagte ich und versuchte, sie in meinem Gedächtnis unterzubringen. »Francis Kane.«
    Sie notierte den Namen. »Ihre Adresse, bitte.«
    »Keine.«
    »Keine Heimatadresse?«
    »Nein. Schreiben Sie New York City.« Ich kannte sie. Der Name lag mir auf der Zunge, aber ich kam einfach nicht darauf. Das irritierte mich.
    »Alter?« fragte sie, ohne von ihrem Block aufzusehen.
    »Dreiundzwanzig.«
    »Verzeihung, ich meinte Ihr Geburtsdatum.«
    »21. Juni 1912.«
    Sie murmelte vor sich hin: »Geschlecht, männlich; Farbe, weiß; Augen, braun.« Sie sah mich wieder an. »Teint, dunkel; Haar, grauschwarz.« Sie hielt inne. »Sie sind reichlich jung für so graues Haar.«
    »Ich mache mir viel Sorgen.«
    »Verzeihung«, sagte sie. »Ich wollte nicht aufdringlich sein.«
    »Macht nichts.«
    Sie fuhr fort: »Ihre Größe?«
    »Einsfünfundsiebzig.«
    »Gewicht?«
    »Hundertundfünfundzwanzig Pfund, jedenfalls, als ich mich zum letztenmal gewogen habe.«
    Sie sah mich an und lächelte. Das Lächeln brachte die Erleuchtung. Es war ein vertrautes Lächeln - Marty. Jetzt wußte ich, wer sie war - Marty und Ruth - Ruth Cabell. Hoffentlich erkannte sie mich nicht. Ich wollte nicht, daß mich einer von meinen Bekannten in dieser Verfassung sah.
    »Das muß schon eine Weile her sein. Da schreiben wir besser: hundertundfünf.«
    »Wie Sie wollen.« Ich versuchte, meine Erregung zu verbergen. »Wo arbeiten Sie?«
    »Nirgends. Ich bin arbeitslos.«
    »Was für eine Arbeit können Sie verrichten?«
    »Jede, die ich bekommen kann.«
    »Wo sind Sie geboren?«
    »New York.«
    »Oberschule oder sonstige Ausbildung?«
    Fast hätte ich einen Bock geschossen. Wenn ich gesagt hätte: Washington-Oberschule, hätte sie gewußt, wer ich war.
    »Nein«, sagte ich.
    »Ganz bestimmt nicht?«
    Ich merkte, daß sie das nicht aufschrieb. Ihre Augen funkelten erregt. »Ich bin ziemlich sicher«, sagte ich.
    Sie stand auf, trat ans Fußende des Bettes und blickte mir fest ins Gesicht. Ich wich ihrem Blick nicht aus. »Francis Kane«, sagte sie nachdenklich vor sich hin. »Frank Kane. Frankie, Frankie, erinnerst du dich nicht? Ich bin Ruth, Martys Schwester.«
    Erinnern? Wie konnte ich es vergessen? Mit undurchdringlicher Miene erwiderte ich: »Tut mir leid, Miss, Sie haben mich wohl mit irgend jemandem verwechselt.«
    »Nein, das habe ich nicht«, erklärte sie zornig und stellte sich an die Seite meines Bettes. An diesem Ausbruch ihres Temperaments erkannte ich die alte Ruth. »Der Name ist Francis Kane, nicht wahr?«
    Ich nickte.
    »Dann habe ich recht. Ich muß recht haben.« Sie nahm ihre Brille ab. »Hören Sie. Sie sind mit meinem Bruder zusammen zur George-Washington-Oberschule gegangen. Sie waren im Waisenhaus - St. Therese. Sie müssen sich doch daran erinnern.«
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Sie irren sich. Ich bin nie dort gewesen, und ich kenne Ihren Bruder nicht.«
    »Aber Sie heißen Francis Kane. Sie müssen es doch sein.«
    »Miss«, sagte ich und versuchte, eine resignierte Duldermiene aufzusetzen. »Der Name ist nicht ungewöhnlich. Es gibt ihn wahrscheinlich ziemlich oft.« Ich versuchte es anders. »Wie sah dieser Bursche denn aus? Bestimmt nicht so wie ich, darauf möchte ich jede Wette eingehen.«
    Sie blickte mich ein paar Sekunden an, ehe sie antwortete. Und dann hatte ihre Stimme einen zweifelnden Ton. »Nein, er sah Ihnen nicht sehr ähnlich. Aber das ist acht Jahre her.«
    »Sehen Sie?« sagte ich triumphierend.
    »Nein«, erwiderte sie. »Ich sehe gar nichts. Sie müssen es vergessen haben. Sie waren krank. Man kann so etwas nämlich
    vergessen. Das ist schon öfter vorgekommen.«
    »Man vergißt nicht seine Freunde, egal, wie lange man sie nicht gesehen hat.«
    Sie setzte sich wieder hin. »Aber vielleicht leiden Sie unter -« Sie zögerte, das Wort auszusprechen. »Amnesie?« sagte ich und lachte. »Nein, das glaub ich nicht.«
    »Ich kann mich nicht täuschen«, erklärte sie beharrlich und versuchte es von neuem: »Können Sie sich nicht an

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