Die Moralisten
Julie erinnern, die für uns arbeitete? Sie gaben meinem Bruder Boxunterricht. Und Jerry Cowan? Janet Lindell? Ihre Tante und Ihr Onkel, Bertha und Morris Cain? Bedeuten diese Namen nichts für Sie?«
Ich schüttelte den Kopf und schloß die Augen. Diese Namen bedeuteten alles in der Welt für mich - sie bedeuteten für mich eine Welt der Vollkommenheit und der Liebe. Ich schlug die Augen wieder auf. »Nein, ich habe noch nie von ihnen gehört.« Ich ließ meinen Kopf ins Kissen zurücksinken.
Plötzlich beugte sie sich besorgt vor. »Sie sind müde. Ich habe Sie erregt. Ich möchte Sie nicht aufregen, ich möchte Ihnen nur helfen. Bitte, versuchen Sie doch, sich zu erinnern. Zuerst hat Julie in Ihrem Leben eine große Rolle gespielt und dann Janet, und ich war ein wenig eifersüchtig auf sie, wie auf alle Menschen, die etwas für Sie übrig hatten. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht lag es daran, daß ich Sie selbst so gern hatte -mehr, als ich wußte, mehr, als ich mir selber eingestand. Ich habe Sie oft kritisiert und beleidigt. Und eines Tages haben Sie mich im Schulkorridor geküßt. Und Sie haben erklärt, daß wir von nun an Freunde sein wollten. Erinnern Sie sich nicht?«
Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite und fuhr fort: »Als Sie mich küßten, wußte ich plötzlich, was ich für Sie empfand -was ich immer für Sie empfunden hatte, und ich schämte mich all der häßlichen Dinge, die ich zu Ihnen gesagt hatte. Daran müssen Sie sich doch erinnern. Das können Sie doch nicht
vergessen haben.«
Ich lachte ein wenig spöttisch. »Wenn ich Sie je geküßt hätte, würde ich das wirklich nicht so leicht vergessen.«
Eine leichte Röte stieg in ihre Wangen. Sie schien sich darüber zu ärgern. Das sah ich deutlich. Nach einer Weile gewann sie ihre Fassung wieder. »Verzeihung«, sagte sie in unpersönlichem Ton, »ich kann mich natürlich irren. Ich wollte Ihnen nicht nahetreten. Ich versuchte nur zu helfen.«
»Ich weiß, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Es tut mir sogar ein wenig leid, daß ich nicht der bin, für den Sie mich halten.«
Sie erhob sich, und ihre Stimme klang immer noch kühl und unpersönlich, als sie sagte: »Aber Sie könnten sich auch irren. Morgen bringe ich meinen Bruder mit, damit er Sie sieht -vielleicht auch Jerry Cowan. Die wissen es genau.«
»Das wird nicht viel Zweck haben«, sagte ich, obwohl ich überzeugt war, daß sie mich sofort erkennen würden.
»Mein Bruder ist Assistent an einem Krankenhaus in der oberen Stadt und wird nicht vor Mittag hier sein können. Dann werden wir ja sehen. Hoffentlich sind Sie es. Wir haben nämlich allerlei zu erzählen.« Sie stand da und wartete.
Fast wäre ich in die Falle gegangen. Es gab so vieles, was ich wissen wollte, vor allen Dingen über meine Angehörigen. Zahllose Fragen jagten mir durch den Kopf, aber ich unterdrückte sie.
»Wie Sie wollen, Lady«, sagte ich und tat, als sei ich der ganzen Sache überdrüssig, »aber ich sage Ihnen, es hat keinen Sinn.«
Enttäuschung flog über ihr Gesicht, verschwand aber sofort wieder. »Mag sein«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »Gute Nacht.« Ich sagte nichts und sah ihr nach, wie sie durch den Saal und zur Tür hinausging. Dann griff ich mit zitternden Händen nach einer Zigarette und zündete sie an. Morgen mittag!
Das bedeutete, daß ich bis dahin verschwunden sein mußte. Ich wagte nicht zu bleiben. Marty und Jerry hätte ich nicht bluffen können. Ich beschloß, ein gewaltiges Frühstück zu verdrücken und dann zu verschwinden. Man konnte mich nicht mit Gewalt hier festhalten. Ich war ja kein Verbrecher.
Ich hatte einige Schwierigkeiten, den Arzt davon zu überzeugen, daß es mir wieder gutging. Aber was konnte er schon machen, wenn ich erklärte, ich sei o. k.?
Er machte ein besorgtes Gesicht, als ich um meine Entlassung bat. »Sie sollten wirklich noch ein paar Tage hier bleiben«, meinte er. »Sie brauchen dringend Ruhe.« Er drückte es gelinde aus.
»Aber Doktor«, protestierte ich, »ich fühle mich doch besser. Außerdem habe ich Freunde, die für mich sorgen werden. Es wird schon gehen.«
»Na ja«, sagte er, »wenn Sie es absolut wollen. Wir können Sie ja nicht zwingen hierzubleiben. Aber ich rate Ihnen, sich vorerst ganz ruhig zu verhalten. Sie sind erschöpfter, als Sie annehmen. Wenn Sie bei Ihren Freunden sind, bleiben Sie ein paar Tage im Bett.«
»Keine Sorge, Doktor. Das tue ich.«
Er unterzeichnete meinen Entlassungsschein und gab ihn einer
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