Die Moralisten
ihm? Was hat der Arzt gesagt?«
»In gewisser Beziehung haben wir ja noch Glück. Dein Onkel hat zwar Tuberkulose, aber sie ist noch im Anfangsstadium. Der Arzt meinte, er könne in absehbarer Zeit wieder auskuriert sein.«
»Das ist gut - wenn er nur wieder gesund wird. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«
Sie lächelte. »Ich auch. Aber heute fühle ich mich schon besser. Gestern abend war ich in ziemlich trostloser Verfassung.«
»Ich weiß. Ich habe es gehört.«
Sie lächelte mich wieder an. »Es gibt nicht viel, was du nicht merkst.«
Ich schmunzelte.
»Du bist ein seltsamer Junge. Etwas reif für dein Alter und auch ein wenig weich, aber mir gefällt es.«
Ich trat an ihren Stuhl und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Ich mag dich auch sehr gern.«
In diesem Augenblick kam mein Onkel nach Haus. Meine Tante stand auf und küßte ihn. »Wie ist alles gegangen, Morris?«
»Ziemlich gut«, sagte er, nachdem er mich begrüßt hatte. »Sie wollen mir fünfzehntausend Dollar für den Bezirk geben, und das ist ein guter Preis. Davon werden wir eine Weile leben können. Aber die ganze Geschichte hat einen Haken. Ich sprach beim Kinderfürsorgeamt vor, um den Leuten mitzuteilen, daß ich diesen Staat verlasse, und sie fragten nach dem Grund. Als ich ihnen die Situation geschildert hatte, erklärten sie, wir könnten Frankie nicht mitnehmen.«
Ich sprang von meinem Stuhl hoch, als ich das hörte.
»Warum denn nicht?« fragte ich.
»Anscheinend besteht eine Bestimmung des Waisenhauses, wonach das Sorgerecht für ein adoptiertes Kind automatisch wieder an das Waisenhaus zurückfällt, wenn in der Familie der Adoptiveltern eine ansteckende Krankheit ausbricht. Vielleicht mußt du also für eine Zeit wieder ins Waisenhaus zurück, Frankie. Aber ich weiß es noch nicht. Ich werde morgen früh mal mit meinem Rechtsanwalt sprechen, und vielleicht haben wir gar keine Schwierigkeiten.«
»Was auch passiert, ins Waisenhaus gehe ich auf keinen Fall wieder«, erklärte ich.
»Das brauchst du auch nicht, Frankie«, versicherte mein Onkel. »Dafür werden wir schon sorgen.«
Eine Woche verstrich - eine Woche emsiger Tätigkeit zu Hause. Wir hatten uns eine Wohnung in der Nähe von Tucson beschafft, und meine Tante traf die ersten Vorbereitungen für den Umzug. In zwei Wochen sollte es soweit sein. Es war Samstagnachmittag, ein herrlicher Maitag. Ich half meiner Tante beim Packen. Wir hatten alle schon Reisefieber. Die Kinder konnten von nichts anderem reden.
Gegen zwei kam mein Onkel. Er war müde und setzte sich ins Wohnzimmer. Tante Bertha machte ihm eine Tasse heißen Tee, die er langsam trank. Ich war in der Küche damit beschäftigt, Geschirr in Papier einzuwickeln und in Kisten zu packen, als mein Onkel mich zu sich ins Zimmer rief.
Tante Bertha kam mit, als ich ins Zimmer ging. »Setz dich«, sagte mein Onkel zu mir. Ich setzte mich auf die Couch, und meine Tante setzte sich neben mich. Sie nahm meine Hand und hielt sie leicht in der ihren.
»Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, Frankie«, begann mein Onkel langsam. »Aber früher oder später mußt du es doch wissen, und da ist es schon besser, wenn du es jetzt erfährst. Du kannst leider nicht mit uns fahren.«
Ich wollte etwas sagen, aber Tante Bertha drückte mir die Hand und flüsterte: »Laß deinen Onkel ausreden.« Da schwieg ich.
»Du weißt ja«, fuhr er fort, »daß ich mit meinem Anwalt gesprochen habe. Ich hoffte, daß er etwas ausrichten könnte. Aber es war völlig zwecklos. Das Gesetz besteht nun einmal, und wir müssen uns - ob mit Recht oder Unrecht - ihm beugen. Ich bin bei verschiedenen Beamten vorstellig geworden, aber es hat alles nichts genutzt. Man hat mir erklärt, daß du bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr im Waisenhaus bleiben mußt. Dann kannst du wieder zu uns kommen.«
Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl im Hals, als sei ich dem Weinen nahe. Ich hoffte, daß ich es unterdrücken konnte. Von Anfang an hatte ich damit gerechnet, daß ich mitfahren könnte. Ich sagte kein Wort.
Meine Tante blickte mich an und sprach mit sanfter, teilnahmsvoller Stimme: »In mancher Beziehung, Frankie, hat es auch sein Gutes. Du kannst die Schule hier zu Ende machen, wo du alle deine Freunde hast. Onkel Morris hat auch mit Bruder Bernhard gesprochen, der dich gern mag und versprochen hat, gut für dich zu sorgen. In ganz kurzer Zeit hast du die Schule hinter dir, und dann kannst du zu uns kommen. Bei uns kannst du dann aufs College
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