Die Moralisten
Wirklichkeit nur wissen wollten, ob sie Jerry liebte und ob ich sie liebte - aber wir saßen bloß stumm auf der Bank und sahen über den Fluß hinweg nach Bronx.
Meine zweite Zigarette war fast aufgeraucht. Ich zündete mir eine neue daran an und warf die Kippe über das Geländer. Schließlich sprach sie.
»Du hast dich verändert, Frankie - im letzten Jahr bist du ganz anders geworden.«
»Wir verändern uns alle. Wir werden nicht jünger.«
»Das meine ich nicht, Frankie«, sagte sie langsam. »Irgendwie habe ich das Gefühl, daß du jemand bist, den ich nie vorher gekannt habe. Du hast dich sehr verändert. Ich weiß, wir sind alle anders geworden - Jerry und Marty und ich -, aber du bist offenbar kalt und hart und selbstsüchtig geworden. Das bist du vorher nie gewesen.«
Mir fiel ein, daß auch Ruth mir das schon gesagt hatte. Ich blickte Janet ins Gesicht und sagte offen heraus: »So war ich immer.«
Wir versanken wieder in Schweigen und starrten auf den Fluß, auf dem ein kleines Schiff stromaufwärts fuhr. Ich warf meine Zigarette fort. Ich zündete mir keine neue an, denn ich hatte einen gräßlichen Geschmack im Mund. Ein leichter Wind war hinter uns aufgekommen. Ich spürte, wie er über meinen Kopf wehte, und sah Janet an. Der Wind zauste an ihren Haaren, und kleine Locken umrahmten ihr Gesicht. Ich hätte gern ihr Haar berührt, es war immer so weich und wellig.
Sie schaute zu mir herüber. »Du siehst aus wie ein kleiner Junge, der gerade eine unverdiente Tracht Prügel bekommen hat«, sagte sie und versuchte tapfer zu lächeln. Es gelang ihr nicht ganz.
Ich sagte nichts.
»Frankie, warum besuchst du mich eigentlich nicht mehr?«
Da war sie, die erste Frage. Ich konnte nicht ahnen, wieviel Mut sie aufbringen mußte, um sie zu stellen.
Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte, und murmelte, daß ich zu sehr in Anspruch genommen sei.
»Das warst du früher auch und fandest doch Zeit dafür.«
Ich wandte ein, daß sie ja mit Jerry ginge.
»Mit Jerry bin ich erst zusammen, seit du zu der anderen Clique übergegangen bist. Was hast du denn eigentlich von mir erwartet? Sollte ich trübsinnig zu Hause sitzen und warten, bis
du gnädig zu mir zurückkehren würdest?«
Ihr Gesicht war blaß und angespannt.
»Aber, Janet, wir waren doch Kinder, und wir wußten wahrscheinlich gar nicht genau, was wir sagten... «
»Das mag vielleicht bei dir so gewesen sein.« Sie weinte jetzt. Die Tränen in ihren Augen funkelten wie kleine Diamanten, wenn die Sonne darauf schien. »Aber mir war es ernst. Ich dachte, du liebtest mich.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und beugte sich, lautlos weinend, vor.
Ich spürte einen Kloß im Hals und konnte kaum sprechen. Nervös blickte ich mich um. Gott sei Dank war niemand in der Nähe! »Aber, Janet -«, sagte ich und berührte sanft ihre Schulter. Wie konnte ich ihr sagen, daß es mir leid tat, sie verletzt zu haben, oder daß ich mir wie ein Idiot vorkam? Ich dachte an Eve, das Mädchen in der Oberklasse, mit der ich in den letzten Wochen gegangen war, an ihre feuchtwarmen Küsse und ihre verheißenden Tricks, mit denen sie viel versprach und nur wenig gab - mit denen sie einen aufreizte, ständig aufreizte. Wie konnte ich Janet sagen, daß ich ihre Frische liebte, ihren einfachen, geraden, ehrlichen Blick, die Wärme in ihren Augen? Wie konnte ich ihr sagen, daß ich sie begehrte - und noch mehr als das?
Zornig schüttelte sie meine Hand von ihrer Schulter. »Geh weg!« rief sie. »Ich fühle mich so erniedrigt - ich hasse dich, ich hasse dich!«
Sie sprang auf und rannte auf die Schule zu, während sie ihr Gesicht mit einem kleinen, unzureichenden Taschentuch abzuwischen versuchte. Ich stand auf und wollte ihr nachlaufen. Dann fiel mir ein, daß man uns von den Fenstern der Schule sehen konnte. So setzte ich mich wieder hin und sah ihr nach, wie sie in die Schule lief.
Ich blickte über den Fluß. Es wurde allmählich kühler. Ich fröstelte. Wieder ertönte der Gong zum Unterrichtswechsel.
Darüber war ich beinah froh. Ich stand auf und schlenderte in das Schulgebäude. Ich hatte jetzt Spanisch. Im zweiten Stock sah ich Janet aus dem Waschraum der Mädchen kommen. Ich ging zu ihr und sagte: »Janet.«
Sie wandte das Gesicht ab. »Sprich nicht mehr mit mir - nie wieder.« Sie sagte es mit leiser, kalter Stimme.
»Wie du willst«, erwiderte ich ebenso kalt.
Sie ging den Korridor hinunter, und ich sah ihr nach, bis sie um die Ecke
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