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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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an - dieses öde, graue, schäbige Gebäude, daneben die alte Schule mit den braunen Backsteinwänden, die Kirche an der Ecke, das Krankenhaus auf der anderen Seite der Straße. Ich erinnerte mich an den Gong, der uns zu den Mahlzeiten rief, an die sorgfältig geplante Regelmäßigkeit unserer kleinsten Tätigkeiten, an die ewigen Strafpredigten, an die zahllosen Anordnungen und Vorschriften. Ich haßte dieses Haus. Ich wollte nicht wieder dahin zurück. Ich würde es einfach nicht tun.
    Ich schaute auf meine Uhr. Es war gerade zwei. Ich ging zur Bank und hob zweihundert Dollar von meinem Konto ab.
    Dann nahm ich die Untergrundbahn zum Grand-CentralBahnhof. Ich hatte vor, den nächsten Zug nach Tucson zu nehmen. Aber dann fiel mir ein, daß sie dort zuallererst nach mir suchen würden. Ich wollte weg, aber ich wußte nicht, wohin. Mein Blick fiel auf ein Plakat »Baltimore-und-Ohio-Eisenbahn«. Es zeigte das Bild eines großen, über sein ganzes Mondgesicht grinsenden farbigen Gepäckträgers. Auf der Abfahrtstafel der Züge stellte ich fest, daß um drei Uhr zehn ein Zug nach Baltimore ging.
    »Eine Fahrkarte nach Baltimore, bitte«, sagte ich zu dem Schalterbeamten.
    DRITTER TEIL
    Am nächsten Morgen erwachte ich in einem fremden Zimmer. Noch halb im Schlaf starrte ich träge zur Decke. Langsam wanderte mein Blick durch den Raum, bis mir allmählich klarwurde, wo ich war: in Baltimore. Eigentlich hatte ich gar nicht weglaufen wollen, und ich überlegte, ob ich nicht wieder umkehren sollte. Als ich völlig wach war, stieg ich aus dem Bett und begann mich anzuziehen. Während ich mich in dem kleinen Becken in der Ecke des Zimmers wusch, überlegte ich, was sie wohl in New York machten. Als ich nicht im Waisenhaus erschien, hatte Bruder Bernhard wahrscheinlich an meine Verwandten telegraphiert. Sobald er ihre Antwort in Händen hatte, würde er es der Polizei melden. Die Polizei würde dann auf den Bahnhöfen Erkundigungen einziehen und früher oder später entdecken, daß ich eine Fahrkarte nach Baltimore gekauft hatte. Ich wußte, daß ich mich nicht lange verborgen halten konnte. Das beste war vielleicht, dieses Hotel so rasch wie möglich zu verlassen und in der Stadt unterzutauchen.
    Ich beendete meine Toilette und ging nach unten, gab meinen Schlüssel ab und verließ das Hotel. An einem Zigarrenkiosk kaufte ich mir eine Zeitung und betrat ein kleines Restaurant. Ich bestellte mir ein Frühstück, schlug die Zeitung auf und studierte die Stellenangebote. Eifrig durchflog ich die Spalten. Es wurde eine Reihe von Jungen gesucht: Bürojungen, Botenjungen, Ladenjungen und dergleichen. Ich strich die Anzeigen mit einem Bleistift an und beendete mein Frühstück.
    Bis zum Mittagessen war ich überall gewesen, ohne jedoch Arbeit zu bekommen.
    Ich hielt es für richtiger, mir erst mal eine Schlafstelle zu besorgen, ehe ich weiter in der Gegend herumlief. Ich schlug meine Zeitung wieder auf und studierte die Rubrik
    Zimmervermietungen. Die Zimmer schienen alle im selben Stadtteil zu liegen. Im Restaurant, wo ich mein Mittagessen einnahm, erklärte man mir, wie ich dorthin gelangen konnte. Nach dem Essen erwischte ich einen Bus vor der Tür und stieg in der Stafford Street aus. Es war ein alter, schäbiger Stadtteil, etwas abseits vom Zentrum der Stadt. Graue und braune Steinhäuser säumten die Straßen, und in fast jedem Fenster steckten kleine Schilder »Zimmer frei« oder »Zimmer zu vermieten«. Ich ging an der Häuserreihe entlang, bis ich eins fand, das mir sauberer erschien als die meisten anderen. Ich lief die Stufen hinauf und läutete. Niemand kam. Ich wartete einige Minuten und klingelte dann noch mal. Wieder rührte sich nichts. Ich wollte schon wieder gehen, aber als ich auf halber Treppe war, hörte ich, wie sich die Tür hinter mir öffnete. Ich kehrte wieder um, und vor mir auf der Schwelle stand eine alte Frau, deren Haar auf komische Bänder gewickelt war.
    »Was fällt Ihnen ein, einen Menschen mitten am Nachmittag aufzuwecken?« herrschte sie mich an. Sie hatte eine helle, krächzende und etwas zittrige Stimme.
    »Sie haben ein Schild im Fenster, Ma'am«, sagte ich und deutete mit dem Finger darauf. »>Zimmer zu vermietend«:
    »Nennen Sie mich nicht Ma'am«, sagte sie scharf. Dann folgte ihr Blick meinem Finger. »Ach, das!« fügte sie etwas ruhiger hinzu.
    »Ja«, sagte ich, »ist es noch frei?«
    »Nein«, erwiderte sie rasch. »Es ist seit gestern vermietet. Ich habe nur vergessen, das Schild aus

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