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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Hause nehmen.«
    »Nein«, sagte er. »Behalte ihn. Du wirst ihn brauchen, wenn du später mal zu uns herausfährst.«
    Wir gingen wieder nach unten in Bruder Bernhards Büro. Mein Onkel mußte einige Papiere unterschreiben. Dann verabschiedeten wir uns von Bruder Bernhard.
    »Machen Sie sich um Frankie keine Sorgen, Mr. Cain«, sagte er zu meinem Onkel. »Wir werden schon gut auf ihn aufpassen.«
    »Davon bin ich überzeugt«, sagte mein Onkel. »Frankie wird morgen nachmittag hier sein. Erst bringt er uns zum Bahnhof, und dann kommt er hierher.«
    »Um welche Zeit?« fragte Bruder Bernhard.
    »So gegen drei. Wir fahren um ein Uhr ab.«
    »Gut, dann erwarte ich ihn. Nun, Sir, ich wünsche Ihnen vor allen Dingen eine recht gute Erholung.«
    Sie schüttelten sich nochmals die Hände.
    »Also bis morgen nachmittag, Francis«, sagte Bruder Bernhard zu mir.
    »Ja, Sir«, sagte ich.
    Wir stiegen die Treppe hinab und gingen durch die Turnhalle auf die Straße. Ein paar Kinder spielten in der Turnhalle Basketball. In dem alten Kasten hatte sich kein bißchen verändert.
    Wir fuhren so schweigend heim, wie wir gekommen waren.
    Es war der trübste Abend, den wir je miteinander verbracht hatten. Wir gingen früh zu Bett, da wir zeitig aufstehen mußten.
    Am frühen Morgen kamen die Spediteure, und gegen halb elf war die Wohnung leer. Meine Verwandten nahmen nur zwei Handkoffer mit den notwendigsten Dingen mit. Ich brachte sie zum Grand-Central-Bahnhof. Der Zug wurde kurz vor zwölf eingesetzt, und ich stieg mit ihnen ins Abteil.
    Ich gab den kleinen Mädchen zum Abschied einen Kuß und eine Schachtel Pralinen, die ich für sie gekauft hatte.
    »Ich werde dich sehr vermissen, Frankie«, sagte die ältere und schlang die Arme um meinen Hals.
    »Du wirst mir auch fehlen«, sagte ich und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar. Dann wandte ich mich an meinen Onkel und reichte ihm die Hand, die er kräftig schüttelte.
    »Leb wohl, Onkel. Alles Gute und baldige Genesung.«
    Er lächelte. »Auf Wiedersehen, Frankie. Mach keine Dummheiten. Die Zeit wird schnell vergehen.«
    Dann kam meine Tante an die Reihe. Weinend schloß sie mich in die Arme und küßte mich. »Wenn du doch bloß mit uns fahren könntest, Frankie!« schluchzte sie.
    »Das wünschte ich mir auch!« sagte ich, selbst dem Weinen nahe. Aber ich beherrschte mich, da ich sie nicht noch trauriger machen wollte. »Dank für alles.«
    »Oh, Frankie! Frankie!« rief sie und küßte mich wieder. »Du brauchst uns nicht zu danken. Wir lieben dich und möchten dich bei uns haben. Du wirst mir schrecklich fehlen.«
    Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. In diesem Augenblick klopfte mir der Schaffner auf die Schulter. »Steigen Sie lieber aus. Der Zug fährt jeden Moment.«
    Meine Tante ließ mich los, und ich sah sie alle noch einmal an. »Also dann auf Wiedersehen!« stieß ich hervor und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich wandte mich rasch
    um und stieg aus dem Zug.
    Ich hörte ihre Abschiedsrufe, als ich auf dem Bahnsteig zu ihrem Fenster ging, und winkte ihnen zu. Die Kinder preßten ihre Gesichter gegen die Scheibe. Mein Onkel wollte mir noch etwas sagen, aber ich konnte es durch das geschlossene Fenster nicht verstehen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Mein Onkel öffnete das Fenster. Ich lief neben dem Zug her.
    »Sei nicht traurig, Frankie«, rief er. »Wir sehen uns bald wieder!«
    Ich rannte jetzt aus Leibeskräften neben dem schneller werdenden Zug. »Ja, hoffentlich bald!« schrie ich. »Bald! Bald!«
    Ich war am Ende des Bahnsteigs angelangt. Der Zug fuhr in den Tunnel ein. Sie winkten noch einmal und riefen: »Leb wohl! Leb wohl!« Es war das letzte, was ich von ihnen sah. Ich war völlig außer Atem und blieb einen Augenblick stehen, um mich zu verschnaufen. Dann drehte ich mich um und ging langsam zurück. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so einsam und verlassen gefühlt.
    Ich trat aus der Bahnhofshalle auf die vom hellen Sonnenlicht durchflutete Straße und wanderte langsam durch die Stadt bis zum Waisenhaus. Ich blieb davor stehen und sah es mir von außen an. Ich schloß die Augen und dachte an den Gutenachtkuß meiner Tante, an die freundlichen kleinen Geräusche und Gerüche, die es zu Hause gibt, an die anheimelnden, irgendwie wunderbaren Abende, die wir gemeinsam verbrachten - ich mit meinen Schulaufgaben, Onkel Morris mit seiner Zeitung und Tante Bertha, die die Kinder ins Bett steckte.
    Und wieder sah ich mir das Waisenhaus

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