Die Moralisten
gehen. Es gibt da draußen sehr schöne Universitäten. Und während du hier die Schule besuchst, stellen wir uns vor, daß du nur vorübergehend fort bist, genauso, wie wenn du aufs College gehst.«
»Das ist mir alles egal«, sagte ich verzweifelt. »Mir sind solche Vorstellungen egal, und auch meine Freunde sind mir egal. Die werde ich nicht vermissen, aber ihr werdet mir fehlen. Ich will mit euch zusammensein.«
»Und wir möchten dich auch gern bei uns haben«, sagte meine Tante ernst. »Du glaubst gar nicht, wie gern. Wir haben dich sehr in unser Herz geschlossen, und wir lieben dich. Aber wir können nichts an der Sache ändern. Wir müssen tun, was das Gesetz vorschreibt. Wir haben keine andere Wahl.«
Ich blickte die beiden an und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich versuchte zu sprechen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich konnte sie nur stumm anblicken, während mir dicke Tränen über die Wangen rollten. Ohne zu schluchzen, saß ich da und weinte lautlos vor mich hin. Meine Tante und mein Onkel sahen mich wortlos an, und die Augen meiner Tante füllten sich ebenfalls mit Tränen. Plötzlich sprang ich auf, rannte in mein Zimmer und warf mich aufs Bett.
Ich hörte, wie die beiden an meine Tür kamen. Meine Tante sagte: »Morris, ich gehe am besten hinein und rede mit ihm. Hast du den Blick in seinen Augen gesehen? Wie ein kleiner Junge, der aus seinem Heim verstoßen ist.«
»Nein«, sagte mein Onkel. »Laß ihn allein. Er kommt bald darüber hinweg. Er ist schon ein richtiger Mann.«
Ich dachte über das nach, was er gesagt hatte. Ich war ein richtiger Mann. Ja, das stimmte. Aber ich benahm mich wie ein kleiner Junge, der aus dem Haus verstoßen war. Ich war ein Mann. Ich versuchte, mich zu beherrschen, hörte auf zu weinen und erhob mich von meinem Bett. Ich schlich ins Bad und wusch mir das Gesicht. Dann ging ich in die Küche.
Meine Tante und mein Onkel, die am Tisch saßen, blickten auf, als ich eintrat. »Na, fühlst du dich besser?« fragte mein Onkel.
Ich nickte zustimmend. Zu sprechen wagte ich nicht - ich traute meiner Stimme noch nicht.
»Setz dich hin und trink 'ne Tasse Tee«, sagte meine Tante.
Erst Jahre später wurde mir klar, daß mein Onkel im Flur vor meiner Tür absichtlich laut gesprochen hatte, um mir zu helfen. Aber damals wußte ich es nicht. Und mir war wirklich elend zumute. Ich wollte nicht wieder ins Waisenhaus zurück.
Ich war froh, daß ich niemandem etwas von den Umzugsplänen erzählt hatte, denn ich würde keinem verraten, daß ich wieder ins Waisenhaus zurückging. Ich wollte nicht, daß jemand Mitleid mit mir hatte.
Es war Freitag, der 13. Mai 1927. Alles war fix und fertig gepackt. Auch meine Sachen. Mein Onkel und ich wollten mein Gepäck zum Waisenhaus bringen. Am nächsten Tag fuhren sie. Bis dahin sollte ich noch bei ihnen bleiben und erst nach ihrer Abfahrt ins Waisenhaus gehen. Jetzt wollten wir nur die Sachen hinschaffen.
»Fertig?« rief mein Onkel.
»Ja«, sagte ich. Ich nahm meinen Koffer und trug ihn nach unten in den Wagen. Schweigend fuhren wir in die untere Stadt.
»Ich habe ja nie daran gedacht, daß gerade so etwas passieren würde«, sagte mein Onkel, als ob er sich für das Geschehene entschuldigen wollte.
Ich antwortete nicht. Ich wußte nicht, was ich darauf hätte sagen sollen. Als wir beim Waisenhaus ankamen, nahm ich meinen Koffer, und wir stiegen die Treppe hinauf zu Bruder Bernhards Büro. Er schüttelte erst meinem Onkel, dann mir die Hand.
Er bemühte sich, recht freundlich zu sein. »Du kannst wieder in deinem alten Bett schlafen, Frankie«, sagte er. »Am besten bringst du deine Sachen gleich hinauf und räumst sie ein.«
Wir gingen nach oben. Ich legte meinen Koffer auf mein altes Bett und öffnete ihn. Ein paar Kinder kamen herein, betrachteten uns neugierig und gingen dann wieder hinaus. Ich kannte sie nicht. Es waren wahrscheinlich Neulinge. Dann tauchte ein Junge auf, den ich kannte - Johnny Egan. Er war inzwischen auch sehr groß geworden, fast so groß wie ich. Er kam zu mir ans Bett und begrüßte mich.
»Hallo, Frankie! Kommst du wieder zu uns?«
»Ja«, sagte ich.
Er schwieg, sah mir eine Weile beim Auspacken zu und verschwand dann wieder.
Ich legte meine Wäsche in die Kommodenschubladen, hängte meine Anzüge in den Schrank und verstaute meine Schuhe. In wenigen Minuten war der Koffer leer. Ich klappte ihn zu und sagte zu meinem Onkel: »So, jetzt können wir ihn wieder mit nach
Weitere Kostenlose Bücher