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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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meinte er. »Ich wollte den Anzug ja nicht verkaufen, aber Sie haben ihn nun. Jetzt werde ich die kleine Änderung vornehmen und die Schultern ein wenig enger machen.«
    »Nein«, sagte sie. »Nähen Sie Polster ein. Breite Schultern finde ich schön.«
    »O. k., Lady. Ganz wie Sie wünschen. Es ist Ihr Anzug.«
    Wir warteten, und nach etwa einer Viertelstunde war der
    Anzug fertig.
    »Zieh ihn an, Frank«, sagte Mrs. Mander.
    »O. k., Großmutter.« Ich zog ihn an und stellte mich vor einen Spiegel. Die Alte hatte recht. Die Schultern waren breit, und ich sah älter aus. Ich gab mir Mühe, meine Begeisterung zu verbergen.
    Der Schneider packte den alten Anzug ein, und wir gingen nach Hause. Es war fast sechs. Ich war gespannt auf die übrigen Insassen des Hauses. Mary öffnete uns die Tür.
    »Wir essen um halb sieben«, sagte Mrs. Mander. »Komm bitte pünktlich.«
    »Ja, Großmutter«, sagte ich und ging die Treppe zu meinem Zimmer hinauf.
    Etwas später hörte ich das Läuten einer Glocke.
    Das war wohl das Zeichen zum Essen. Ich ging hinunter zur Küche. Durch die geschlossene Tür drang der Klang vieler Stimmen. Ich hörte die schrillen, krächzenden Laute von Mrs. Mander heraus. Im Dunkeln zog ich mir noch rasch meine Krawatte zurecht. Dann öffnete ich die Küchentür und trat ein.
    Das Geschnatter brach ab, und alle Gesichter wandten sich mir zu. Die meisten starrten mich mit einem Ausdruck unverhohlener Neugier an. Wahrscheinlich hatten sie über mich geredet, ehe ich hereinkam. Ich stand einen Augenblick ruhig da und besah mir die Tafelrunde. Am Ende des Tisches, gerade gegenüber von Mrs. Mander, entdeckte ich einen leeren Platz. Ich marschierte darauf los und setzte mich hin.
    »Recht so, Frank«, sagte Mrs. Mander. »Sieh nur zu, daß du auch dein Teil kriegst.«
    Ohne zu antworten, zog ich mir die Schüssel, die mitten auf dem Tisch stand, heran und legte mir einige Stücke Fleisch auf den Teller.
    Mrs. Mander wandte sich an die Mädchen. »Das ist Frank Kane. Er wird hier arbeiten - dafür sorgen, daß Ordnung herrscht.« Sie langte unter den Tisch und holte eine Flasche Gin vom Boden. Dann füllte sie ein Wasserglas und trank es halb leer, als sei es Wasser. Sie sprach wieder zu mir. »Das Mädchen, das neben dir sitzt, Frank, ist Mary; dann kommt Belle.« Sie leierte alle Namen herunter, und ich nickte jedem Mädchen zu. Es gab Mädchen in jedem Alter - von etwa fünfundzwanzig bis beinahe vierzig -, in allen Größen und Typen, von der üppigen Mary, die neben mir saß und offenbar in den Dreißigern war, bis zu der kleinen, fast sittsam wirkenden Jenny neben Mrs.
    Mander. Sie trugen die verschiedensten Hausmäntel und Kimonos. Manche waren schon vollständig geschminkt, mit hochrot gemalten Wangen und schwarzgetuschten Wimpern. Einige trugen überhaupt kein Makeup und sahen so müde aus, als seien sie eben erst aufgewacht. Aber etwas war ihnen allen gemeinsam: die glänzenden, scharfen Augen und die launenhaft selbstsüchtigen Mundwinkel, die sogar, wenn die lächelten, ein wenig nach unten gezogen waren.
    Mary schien die Anführerin zu sein. Sie war eine große, deftige Frau in einem schmutzigen grauen Morgenrock, eine Wasserstoffsuperoxyd-Blondine mit massiven Brüsten, dicken Armen und einem Doppelkinn. Sie betrachtete mich mit sorgfältig abschätzenden Blicken, aber ich aß unbeirrt weiter, als ob ich nichts davon merkte. Schließlich wandte sie sich an Mrs. Mander. »Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, so ein Kind als Rausschmeißer zu engagieren? Wir brauchen jemanden, der auftrumpfen kann - einen Mann.« Sie blickte mich über ihren Teller hinweg an, um zu sehen, was ich wohl dazu sagte. Ich schwieg und aß weiter.
    Mrs.Mander schüttete kichernd noch einen Schluck Gin hinunter und äußerte sich auch nicht weiter dazu.
    Mary erhob sich. Ich konnte sehen, daß sie sich ihrer Sache sicher fühlte, weil wir nichts erwidert hatten. »Schaffen Sie ihn um Himmels willen aus dem Haus, bevor er in Tränen ausbricht! Guckt ihn doch an! Gleich heult er los.«
    Ich legte Messer und Gabel aus der Hand und blickte zu ihr auf. Sie war etwa ein Meter fünfundsiebzig groß und wog gut hundertfünfzig Pfund. Ich sagte keinen Ton und spürte, wie die anderen Mädchen uns beobachteten. Wenn Mary hier solche Reden führen durfte, dann würden sie alle in dasselbe Horn tuten, das wußte ich. Ich starrte sie an.
    Sie setzte sich wieder auf ihren Platz. Dann beugte sie sich über die Ecke des Tisches und

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