Die Moralisten
kniff mich in die Backe. »Seht mal, ein richtiges Baby!« Als sie meine Backe losließ, fühlte ich, wie die Stelle, wo sie mich gekniffen hatte, brannte.
Abermals beugte sie sich zu mir herüber. »Warum läufst du nicht nach Hause, Bubi?« fragte sie. Ich konnte eine tierische Brutalität in ihren Zügen erkennen. Ihre Stimme klang widerlich und beleidigend.
Ich hob die Hände und legte sie wieder auf den Tisch.
»Hast du deine Sprache verloren?« fragte sie.
Ohne mich zu erheben, versetzte ich ihr mit Handrücken und Gelenk einen Schlag ins Gesicht, in den ich die ganze Wucht meiner hundertvierzig Pfund legte. Sie flog mitsamt dem Stuhl zu Boden. Blut floß aus ihrem Mundwinkel und sickerte aus ihrer Nase. Sie lag der Länge nach auf dem Boden, eine Hand zum Gesicht erhoben, und sah mich ganz blöde an. Die anderen Mädchen blickten erst mich, dann Mary an.
Ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Sie reden zuviel«, sagte ich und aß weiter. Ich sah, wie sie langsam aufstand und mich anstarrte. Ihr Morgenrock war offen und zeigte eine Brust wie eine überreife Melone, dick und schwer. Mit einer Hand stützte sie sich auf ihren Stuhl, und mit der anderen wischte sie sich das Blut vom Gesicht und von ihrem Morgenrock. Sie schien ein wenig zu zögern, als wisse sie nicht, ob sie sich wieder setzen solle. Ich fühlte, daß sie Angst vor mir hatte.
»Setzen Sie sich und essen Sie weiter«, sagte ich. »Und dann machen Sie um Himmels willen, daß Sie nach oben kommen, und waschen Sie Ihr Gesicht! Sie haben schließlich noch zu arbeiten.« Ich sprach mit einer flachen, ausdruckslosen Stimme, wie ich es oft bei Fennelli gehört hatte. Es klang hart und grausam, selbst in meinen Ohren.
Sie zog ihren Morgenrock zu und setzte sich wieder.
»Ich hab's dir ja gesagt!« kakelte Mrs. Mander. »Ich habe euch gesagt, ihr sollt ihn in Ruhe lassen.« Sie kicherte wieder.
Ein Mädchen nach dem anderen beendete seine Mahlzeit und verzog sich. Nach dem Zwischenfall hatten sie nicht mehr viel geredet. Schließlich saßen Mrs. Mander und ich allein am Tisch. Die Alte war halb betrunken. >Sie muß das Fassungsvermögen eines Kamels besitzenc, dachte ich, >oder sie schüttet es in ein hohles Holzbein.<
»Frankie, mein Junge«, krächzte sie. »Ich habe ja immer gewußt, daß wir die Hand eines Mannes brauchen, um hier eine häusliche Atmosphäre zu schaffen.«
Gegen halb acht kamen die Mädchen aus ihren Zimmern und gingen in den Empfangsraum. Sie hatten sich sorgfältig geschminkt und trugen Kleider aus glänzender schwarzer Seide. Ich merkte, daß sie unter den Kleidern nichts anhatten. Ich merkte es daran, wie ihre Brüste beim Gehen wackelten und ihre Kleider sich eng an Hüften und Gesäß schmiegten, und überhaupt an der Art ihres Ganges. In dem trübe erleuchteten Empfangszimmer nahmen sie in kleinen Gruppen Platz, plauderten und warteten auf das Erscheinen ihrer nächtlichen Kundschaft. Die dicke Mary, wie sie genannt wurde, kam ebenfalls nach unten. Als wir uns im Flur begegneten, nickte sie mir gelassen zu, als ob nichts geschehen sei. Sie wurde dicke Mary genannt zum Unterschied zu dem farbigen Dienstmädchen Mary. Ein paar Minuten später erschien Mary, die Magd. Sie trug ein geblümtes Kleid in schreiend bunten Farben, das sich von ihrer dunklen Haut und den Kleidern der anderen Mädchen scharf abhob. Sie setzte sich an den Flügel und begann leise zu spielen und mit sanfter, klagender Stimme zu singen. Das war ihre Tätigkeit für den Abend. Von irgendwoher aus der Tiefe des Hauses erschien Mrs. Mander, und zwar völlig nüchtern. Wie sie das erreicht hatte, war mir absolut unklar. Als wir vom Tisch aufgestanden waren, war sie so betrunken, daß sie kaum gehen konnte. Und jetzt war sie stocknüchtern! Sie war schlicht, beinahe züchtig gekleidet, ihr Haar sorgfältig gekämmt, das
Gesicht leicht gepudert. Eine Brille thronte auf ihrer Nase.
Sie sagte zu mir: »Denk daran: im voraus kassieren; fünf Dollar von jedem Kunden - fünfundzwanzig, wenn er die ganze Nacht bleiben will. Sieh ja zu, daß du die Moneten bekommst, ehe du ihn nach oben läßt. Bleib hier draußen im Flur. Ich paß drinnen auf sie auf. Wenn einer so aussieht, als ob man ihm mehr abknöpfen könnte, gebe ich dir einen Tip und sage dir, wieviel.« Dann ging sie hinein.
Ich konnte sehen,wie sie den Likörschrank öffnete und einige Flaschen herausnahm. Sie stellte sie auf den Flügel und daneben einige leere Gläser. Dann kam sie wieder
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