Die Moralisten
in den Flur. »Laß keine Betrunkenen herein«, warnte sie. »Mit denen hat man nur Scherereien.« Die Türglocke schrillte. »Mach auf«, sagte sie und ging ins Zimmer zurück.
Ich blickte durch das Guckloch in der Tür. Draußen stand ein kleiner Mann, der wie ein Bankangestellter oder ein kleiner Ladeninhaber aussah. »Mrs. Mander?« fragte er. Ich öffnete die Tür und ließ ihn herein. Er war ein alter Kunde und ging gleich ins Empfangszimmer. Ich konnte hören, wie er einige der Mädchen begrüßte. Er paar Minuten später kam er mit der dicken Mary wieder in den Flur. Sie machte ein triumphierendes Gesicht - sie hatte sich den ersten Kunden des Abends geangelt. Er nahm etwas Geld aus der Tasche und gab es mir. Es waren drei Dollar. Ich blickte durch die Tür zu Mrs. Mander hinüber und hielt drei Finger in die Höhe. Sie nickte zustimmend.
»O. k.«, brummte ich - ein ständiger Kunde. Es läutete abermals - wieder ein Kunde. Ich ließ ihn herein. Auch er ging gleich ins Zimmer. Immer mehr Kunden erschienen. Ich konnte das Klirren der Gläser, Lachen und leise Musik aus dem Zimmer hören. Einige Mädchen gingen mit ihren Kunden nach oben. Mary kam mit dem kleinen Mann wieder herunter. Sie half ihm in den Mantel.
»Bis nächste Woche«, sagte sie.
»Ganz bestimmt«, erwiderte er. Ich ließ ihn aus der Tür.
Mary ging wieder ins Zimmer.
Die Nacht zog sich ohne unliebsame Zwischenfälle hin. Sie wurde durch merkwürdige Geräusche unterbrochen: Gläserklirren, schwermütige Negermelodien, das Rauschen von Toiletten, das Quietschen der Tür, Mrs. Manders krächzende Stimme, Schritte auf den Treppen, Kommen, Gehen, Hallo, Auf Wiedersehen, Kleiderrascheln, das Knarren von Betten, nächtliche Laute, schmutzige Laute. Die Nacht schlich weiter.
Gegen drei kam Mrs. Mander aus dem Zimmer. »Noch kurzfristige da oben?« fragte sie.
»Nein.«
»Dann mach dicht«, sagte sie. Ich schloß die Tür ab. Wir gingen in die Küche. Dort befand sich ein kleiner Safe, der neben dem Kühlschrank in die Wand gebaut war. »Du müßtest dreihundertfünfzehn Dollar haben«, sagte sie und legte einen Zettel vor sich auf den Tisch. Ich warf einen Blick darauf. Die Namen der Mädchen standen da und hinter den Namen ein Zeichen für jeden Kunden, den sie gehabt hatten, und was er bezahlen mußte. Ich zählte mein Geld auf den Tisch. Sie hatte richtig gerechnet - ganz genau richtig. Ich schlug mir den Gedanken, bei solcher Gelegenheit etwas zur Seite zu bringen, aus dem Kopf - vorläufig wenigstens.
Sie zählte das Geld nach und schloß es in den Safe. Dann öffnete sie einen Schrank und holte eine Flasche Gin heraus.
»Möchtest du etwas trinken?« fragte sie und reichte mir die Flasche.
»Nein, danke, Großmutter«, sagte ich.
Sie goß sich einen Schluck ein und kippte ihn schnell herunter.
»Das ist auch richtig«, erklärte sie, »rühr das Zeug nicht an.
Es ist Gift.«
Ich beobachtete sie.
»Mein erster Drink heute abend«, versicherte sie. »Ich trinke nie während der Arbeitszeit.«
Sie goß sich noch einen ein.
»Geh jetzt zu Bett, Frank«, sagte sie und blickte mich über ihre Brillengläser hinweg an. »Du wirst den Laden schon schmeißen.«
Ich drehte mich um und ging nach oben auf mein Zimmer. Im Dunkeln zog ich mich aus, warf meine Sachen über den Stuhl und fiel ins Bett.
Ich lag auf dem Bett und starrte durch die Dunkelheit zur Decke. Dann wälzte ich mich hin und her. Meine Augen schmerzten vor Müdigkeit, aber ich konnte nicht einschlafen. Ich zündete mir im Dunkeln eine Zigarette an und zog den Rauch tief in die Lunge.
Irgend etwas stimmte bei mir nicht - stimmte ganz und gar nicht. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich nicht einschlafen konnte, wenn ich schlafen wollte. Plötzlich hatte ich Angst: Angst vor Dingen, die ich nicht verstehen konnte, Angst, allein zu sein, ohne meine Angehörigen, ohne Bruder Bernhard, Angst vor der Zukunft, weil das Leben, das vor mir lag, mir wie ein Morast erschien. Ich begann, leise in mein Kissen zu weinen.
Ich kam mir schmutzig vor, unglaublich schmutzig, bis tief unter die Haut, bis auf die Knochen - so schmutzig und besudelt, daß ich es nie würde wegwaschen können.
Warum war ich nur davongelaufen?
In dieser Nacht konnte ich überhaupt nicht schlafen. Ich beobachtete, wie sich die Dämmerung ins Zimmer schlich. Als es hell wurde, trat ich ans Fenster und zündete mir eine Zigarette an. Die Straße war leer bis auf einen Milchwagen und einen
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