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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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von Gerro.«
    »Wo ist er?« fragte sie.
    Ich deutete auf das Schlafzimmer. »Er schläft. Er hatte einen kleinen Unfall, und ich habe ihn hierhergebracht.«
    Sie schloß die Tür und kam ins Zimmer, während sie ihren Mantel auszog. Sie warf mir einen kurzen, prüfenden Blick zu und ging dann ins Schlafzimmer.
    Als sie zurückkam, sah ich, daß sie blaß war. »Regen Sie sich nicht auf«, sagte ich. »Er ist bald wieder in Ordnung.«
    »Was ist denn passiert?« fragte sie.
    Ich nahm mir eine Zigarette und bot ihr auch eine an. Sie nahm sie, und ich zündete beide an. Dann erzählte ich ihr den ganzen Vorgang. Als ich fertig war, sank sie in einen Sessel.
    »Es muß schrecklich gewesen sein«, sagte sie.
    »Es hätte schlimmer sein können«, erwiderte ich.
    »Ich meine für ihn. Sie wissen nicht, wie sehr er sich für diesen Klub aufgeopfert hat. Wie stolz er darauf war! Wie stolz, daß er dort angesehen war und akzeptiert wurde! Er sagte immer, das sei nur ein Anfang - der Vorläufer einer besseren Zukunft, in der alle ungeachtet ihrer Hautfarbe und ihres Glaubens miteinander auskommen würden. Es muß ihn furchtbar getroffen haben.«
    Ich blickte ihn an. »Es ist keine allzu schlimme Verletzung.«
    »Die äußere Verletzung wird er schnell vergessen«, meinte sie. »Aber es ist noch etwas anderes verletzt - sein Stolz und seine Ideale, und das wird nicht so rasch heilen wie die Wunde an seinem Kopf.«
    Ich nahm meinen Mantel vom Stuhl. »Ich muß jetzt gehen«, sagte ich. »Ich habe nur gewartet, bis jemand kam, dem ich die Situation erklären konnte.«
    »Nein«, sagte sie rasch, »gehen Sie nicht. Es ist schon spät. Ich weiß nicht, ob Sie noch einen weiten Weg haben, aber warum bleiben Sie diese Nacht nicht hier? Sie können drinnen bei Gerro schlafen. Ich schlafe hier auf der Couch. Sie sehen schrecklich müde aus.«
    »Nein«, sagte ich. »Trotzdem vielen Dank. Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe.«
    Ich ging zur Tür.
    Sie folgte mir. »Warum wollen Sie nicht bleiben?« fragte sie. »Mir macht's nichts aus, wenn ich hier schlafe - ganz bestimmt nicht. Ich werde es sowieso tun müssen.«
    Ich sah sie fragend an.
    Sie errötete. Die heiße, rote Glut ergoß sich über Hals und Gesicht. Sie blickte zu Boden. »Einen Augenblick. Sie verstehen nicht. Ich bin seine Frau.«
    Ich mußte lächeln. »Hören Sie, Lady, ich möchte nicht unhöflich oder engstirnig erscheinen. Das ist Ihre Sache, nicht meine. Es ist mir völlig egal, wer oder was Sie sind. Gerro ist ein prachtvoller Mensch. Vielleicht sogar ein großer Mann. Ich gehöre einfach zu den Leuten, die das Glück haben, ihn zu kennen - weiter nichts.«
    Sie setzte sich in einen Sessel und schien wütend auf sich selber zu sein. »Es tut mir leid, daß ich das gesagt habe«, gestand sie. »Ich habe gelogen. Ich bin nicht seine Frau.« Sie hob den Kopf und blickte mich stolz an. »Aber ich wollte, ich wäre es. Ich wollte, ich hätte den Mut, ihn so weit zu bringen, daß er mich heiratet.«
    Ich blickte ihr fest in die Augen, bis sie wieder zu erröten begann, aber sie wandte den Blick nicht ab. Ich warf meinen Mantel über einen Stuhl. »Das ist schon eine verteufelte Art, einen Gast zu behandeln!« sagte ich. »Haben Sie in dieser Behausung nichts zu essen? Ich bin am Verhungern, Miss...?«
    »Marianne Renoir«, sagte sie.
    »Wie wär's, wenn wir was äßen, Marianne?« fragte ich lächelnd.
    »Eier?« Sie lächelte ebenfalls. »Sie werden sich damit begnügen müssen. Etwas anderes kann ich Ihnen nicht anbieten.« Sie ging in die Kochnische. »Spiegeleier oder Rühreier?«
    Zehn Minuten später saßen wir am Tisch und aßen - das heißt, ich aß, und sie redete.
    »Ich traf Gerro auf der Universität. Und Sie wissen ja, wie es so geht. Man redet über Fragen des Studiums, und plötzlich entdeckt man, daß es wichtigere Dinge zu bereden gibt.
    Aber ich war die Mutige. Wir werden der Welt die Stirn bieten, erklärte ich. Was kümmern uns Vorurteile? Was kümmert uns, was die Leute sagen oder denken? Wir werden es ihnen schon zeigen. Aber Gerro sagte nie etwas dazu. Er lächelte nur sein wunderbares, ruhiges, aufrichtiges Lächeln, ohne einen Ton zu sagen.
    Ich glaube, er wußte damals schon, daß ich so redete, um den Tatsachen nicht ins Auge zu sehen. Meine Familie würde es nicht erlauben. Ich komme von Haiti, und obgleich von meiner Urgroßmutter her auch Negerblut in unseren Adern fließt, ist meine Familie stolzer auf ihre weiße Hautfarbe als

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