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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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die reinblütigen Weißen.
    Und Gerros Familie vertrat denselben Standpunkt, nur
    andersherum.
    Gerro wollte immer Schriftsteller werden - Journalist. Er studierte Journalismus auf der Universität. Aber er merkte sehr bald, daß er trotz seiner Ausbildung keine Chancen hatte. Da wandte er sich seiner jetzigen Tätigkeit zu. Er glaubte, er könne durch harte Arbeit auf diesem Gebiet erreichen, daß die Menschen ihn allmählich genauso akzeptierten wie jeden anderen mit denselben Fähigkeiten. Und darum, glaube ich, hat ihn das, was heute abend passiert ist, aufs tiefste verletzt.
    Seine Arbeit nahm ihn so in Anspruch, daß er keine Zeit fand, mich mehr als einmal in der Woche zu besuchen. Und wenn er dann kommt, setzt er sich sofort da drüben an die Schreibmaschine und beginnt zu schreiben. Und was er schreibt, ist so wundervoll und so voller Verständnis und Anteilnahme, daß ich gar nicht begreife, wie jemand es lesen kann, ohne daß ihm die Tränen kommen. Alles, was sein Herz und seine Seele bewegt, strömt durch diese Schreibmaschine, und wenn er fertig ist, blickt er lächelnd zu mir auf und gibt mir das Geschriebene zum Lesen. Und während ich es lese, wandert er nervös auf und ab, raucht eine Zigarette nach der anderen.
    Wenn ich dann zu ihm sage, wie wunderbar es ist, nimmt er die Bogen wieder an sich und schwenkt sie vor meinem Gesicht, >Ist es die Wahrheit, Marianne?< fragte er. >Habe ich die Wahrheit geschrieben?<
    Es ist tatsächlich die Wahrheit - nackt, unverblümt, ehrlich, kompromißlos. Der Jammer der menschlichen Seele, die Empfindlichkeit des Menschen gegenüber den Gefühlen seiner Mitmenschen. Es ist die Wahrheit - eine Fackel, eine strahlende Fackel in der nebligen Nacht einer Welt, die durch Vorurteile und Dummheit verdunkelt wird.«
    Sie stand auf und holte das kleine Porträt von Gerro, das ich mir vorher schon angesehen hatte. »Eines Tages habe ich ihn bei seiner Arbeit gemalt. Er merkte es erst, als er fertig war und aufblickte.
    Ich lächelte ihn an und zeigte ihm das Gemälde. Und wissen Sie, was er da sagte?
    Er sagte: >Mein Gott, Liebling, du machst mich ja schön!< Als ob ich ihn schön machen könnte - ihn, der von Natur aus schön und gütig und ehrlich ist.«
    Sie stellte das Bild wieder an seinen Platz und betrachtete es eine Weile sinnend. Ich hatte inzwischen die Eier verzehrt und beobachtete sie, ohne daß sie es merkte. »Mein Gott!« stieß sie hervor. »Mein Gott! Ich wollte, wir wären verheiratet!«
    Ich wollte etwas sagen, aber eine Stimme unterbrach mich. Es war Gerro, der in der Schlafzimmertür stand und uns anlächelte.
    »Wie ich sehe, habt ihr beiden euch getroffen«, sagte er. »Aber wie üblich erzählt sie nur von mir. Sie hat dir wahrscheinlich nicht gesagt, daß sie das Ross-Stipendium für Kunst gewonnen hat. Oder daß ihre Familie eine der reichsten in Haiti ist. Oder daß wir, wenn wir heirateten, keinen Pfennig für unseren Lebensunterhalt hätten.«
    Sie eilte auf ihn zu. »Gerro, ich hatte solche Angst um dich!«
    Er lächelte sie freundlich an.
    »Angst, Marianne? Du hast keine Angst. Ich vielleicht. Aber du nicht.«
    Ich stand vom Tisch auf. »Hör zu«, sagte ich, »ich bin müde. Wie du die Geschichte erzählst, Gerro, das höre ich mir morgen früh an. Wir wollen jetzt schlafen gehen.«
    Ich schlief auf der Couch im Atelier. Ich war fast eingeschlafen, als ich jemanden aus dem Schlafzimmer ins Atelier kommen hörte. Ich blickte durch den verdunkelten Raum. Es war Marianne. »Marianne«, flüsterte ich, »schläft er?«
    Sie trat an meine Couch und blickte auf mich herab. »Sind Sie immer noch wach?«
    »Ja.«
    »Er hat mir erzählt, was Sie getan haben, und ich wollte Ihnen danken. Ich hatte ja keine Ahnung davon.«
    Dann mußte sie plötzlich lachen.
    »Warum lachen Sie?« flüsterte ich.
    »Wissen Sie, was ich dachte, als ich in die Wohnung kam und Sie da in dem Stuhl sitzen sah? Ich dachte, Sie wären ein Einbrecher, der eingeschlafen war und gerade wieder aufwachte, als ich hereinkam. Sie hatten so einen Ausdruck im Gesicht, als wenn Sie mich anlachten und sagen wollten: >Na gut. Jetzt bin ich geschnappt. Was wollen Sie jetzt machen?<
    Ich stand da und wußte nicht, was ich tun sollte. Eine Tages werde ich Sie malen - auch wenn ich jetzt weiß, was für ein feiner Kerl Sie sind.«
    Sie beugte sich herab und küßte mich auf die Wange. Der Duft eines zarten Parfüms ging von ihr aus. Ihre Weiblichkeit versetzte mich sogleich in heftige

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