Die Moralisten
dem Fenster starrte und ich ihn alle paar Minuten verstohlen betrachtete.
Schließlich beugte er sich vor und verbarg das Gesicht in den Händen. Dann begann er zu weinen. Ich wußte: es war nicht der Schmerz der Verletzung. Es war die Kränkung und die Demütigung, die sich in seinem harten, halbunterdrückten Schluchzen Luft machte. »Diese törichten Menschen«, sagte er, »diese armen, irregeführten Narren. Wann werden sie es endlich begreifen?«
Das Taxi hielt vor einem kleinen, renovierten Etagenhaus. Auf einem Schild über der Tür stand »Atelierwohnungen«. Ich stieg aus und bezahlte den Fahrer. Dann betraten Gerro und ich das Gebäude. Vor einer Tür im dritten Stock blieben wir stehen, und Gerro drückte auf die Klingel. Seine Wunde schien ihm jetzt heftige Schmerzen zu verursachen. Aus der Art, wie er dastand, merkte ich, daß er sich schlecht fühlte.
Ich läutete noch einmal. Wir warteten etwa eine Minute, aber in der Wohnung rührte sich nichts. »Vielleicht sind deine Freunde nicht zu Hause«, sagte ich.
»Ich habe einen Schlüssel«, erwiderte er, zog ihn aus der Tasche und öffnete die Tür.
Er knipste das Licht an, und ich folgte ihm in die Wohnung. In einer Ecke des Raumes stand eine Schreibmaschine, zerrissene Bogen lagen um sie herum. In einer anderen Ecke stand eine Staffelei mit dem halbvollendeten Porträt eines Mannes. Ein Tisch und mehrere Sessel waren über das Zimmer verteilt. In der Nähe des Fensters befand sich eine Kochnische mit einem kleinen Herd, Kühlschrank und Küchenschrank. In der gegenüberliegenden Wand war eine Tür, die Gerro öffnete. Über seine Schulter hinweg konnte ich zwei Einzelbetten und einen Frisiertisch sehen. Er schloß die Tür wieder und kehrte ins Zimmer zurück.
»Es sieht so aus, als sei niemand zu Hause«, meinte er und stand einen Augenblick unschlüssig da, als wisse er nicht, was er noch sagen solle. »Nun«, fuhr er dann fort, »ich kann mir jetzt allein weiterhelfen. Du kannst ruhig nach Hause gehen. Es ist ziemlich spät, und du bist sicher auch ganz erledigt.«
»Ich gehe«, erklärte ich, »wenn ich sehe, daß du im Bett
liegst. Aber erst mußt du etwas Heißes trinken und die Tabletten nehmen, die der Arzt dir gegeben hat.«
»Ich kann das schon allein«, protestierte er.
Ich hatte das Gefühl, daß er mich loswerden wollte.
»Nix!« erklärte ich energisch. »Geh rüber und leg dich hin. Ich setze inzwischen Wasser auf. Gibt's hier irgendwo Tee?«
Er nickte. »Im Küchenschrank sind Teebeutel.«
Ich füllte einen kleinen Topf mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie er immer noch dastand und mich beobachtete. »Zieh dich aus und mach, daß du ins Bett kommst«, befahl ich.
Er ging ins andere Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Nachdem ich ihm Tee gebracht hatte, schlief er ein, und ich setzte mich hin und zündete mir eine Zigarette an. Als ich sie halb aufgeraucht hatte, glaubte ich ihn rufen zu hören. Ich stand auf und warf einen Blick in sein Zimmer. Aber er schlief, und ich setzte mich wieder hin.
Auf dem Tisch neben der Staffelei sah ich ein kleines Porträt von Gerro. Ich ging hin, um es mir näher anzusehen. Es war ein gutes Porträt. Ich entdeckte etwas, was ich bisher noch nicht bemerkt hatte: Gerro war ein gutaussehender Mann. Er hatte feste, sensible Züge, hohe Backenknochen, große, intelligente Augen und ein langes, gutgeschnittenes Kinn. Ich stellte das kleine Gemälde wieder auf den Tisch und kehrte an meinen Platz zurück. Ich erinnere mich, daß ich auf die Uhr sah und feststellte, daß es nach eins war. Dann muß ich im Sessel eingeschlafen sein.
Ich erwachte, als sich ein Schlüssel im Schloß drehte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, daß es halb vier war. Ich wartete darauf, daß sich die Tür öffnete. Ich hörte, wie das Schloß aufsprang, und dann trat ein Mädchen ins Zimmer. Sie blieb im Türrahmen stehen, als sie mich sah.
Sie war eine Schönheit - klein, dunkelrotes Haar, tiefbraune Augen, ein kleiner, schöngeschwungener Mund. Ihr Mantel war offen, und ich konnte sehen, daß sie eine tolle Figur hatte - sehr sexy. Die richtigen Sachen am richtigen Platz, schöne Beine, eine zarte, cremeweiße Haut. Ich blinzelte. Das war also der Grund, warum Gerro versucht hatte, mich loszuwerden. Ich stand auf.
»Wer sind Sie?« fragte sie mit einer Stimme, die zu ihrer Figur paßte. Es war eine weiche, tiefe Stimme.
»Frank Kane«, sagte ich. »Ich bin ein Freund
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