Die Moralisten
mich entschloß, zu der Maifeier zu gehen. Denn an sich machte ich mir nichts aus solchen Volksreden.
Eine große Menschenmenge hatte sich auf dem Platz versammelt. Für die Redner war eine Tribüne errichtet. Männer gingen umher und verteilten gedruckte Tagesprogramme. Ich überflog die Liste und sah, daß Gerro der vierte Redner war. Sein Thema hieß: »Gleichheit - ein Geburtsrecht.« So stand es auf dem Programm.
Ich drängte mich durch die Menge nach vorn und versuchte Gerro zu finden. Schließlich sah ich ihn. Er saß mit einigen anderen Männern hinten auf der Tribüne, wo sie offenbar warteten, bis sie an die Reihe kamen. Ich winkte ihm zu.
Sein Blick, der ruhelos über die Menge gewandert war, fiel auf mich. Er grinste und nickte zum Zeichen, daß er mich gesehen hatte. Ich winkte noch einmal, dann glitt mein Blick über die Menge. Ich versuchte Marianne zu entdecken. Aber sie war nicht da. Eine Hand zupfte mich am Ärmel. Ich drehte mich um. Es war Terry. »Hallo«, sagte ich lächelnd. »Dich habe ich
hier nicht vermutet.«
»Ich wollte Gerro hören. Ich bin mit meinen Leuten hier.«
»Das ist ja fein«, sagte ich verlegen. Ich wußte nicht, was ich sonst sagen sollte. »Wie geht es dir?« Es war eine dumme Frage, denn ich sah sie fast täglich im Laden. Aber wir waren uns ziemlich fremd geworden und redeten nicht viel miteinander.
»Mir geht's gut«, sagte sie. »Ein ganz schöner Haufen Leute, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich, während meine Augen Marianne suchten. »Ziemlich viele Menschen.«
Wir schwiegen eine Weile. Wir wußten nicht, worüber wir reden sollten. Schließlich sagte sie: »Ich muß jetzt wieder zu meinen Leuten gehen.«
»Ja, das mußt du wohl«, sagte ich erleichtert. »Auf Wiedersehen.«
Ich suchte weiter nach Marianne, aber ich konnte sie nicht entdecken. Als ich zur Rednertribüne schaute, sah ich, daß Gerro aufstand und zu der Treppe ging.
Ich ging zu ihm und schüttelte ihm die Hand. »Hallo, alter Junge!«
Er grinste mich an. »Ich bin froh, daß du gekommen bist. Ich war schrecklich nervös, bis ich dich sah. Das ist das erste Mal, daß ich vor einer so großen Menge rede. Aber als ich dich entdeckt hatte, war mir gleich wohler. Ich wußte, daß alles klappen würde. Es ist gut, wenn einer in der Menge ist, den man kennt.«
»Dann bin ich froh, daß ich gekommen bin.« Ich blickte mich um und fragte beiläufig: »Ist Marianne auch hier?«
»Nein«, sagte er. »Sie kann solche Menschenmassen nicht ertragen.«
Ich verbarg meine Enttäuschung. Wir redeten noch eine Weile, und dann ging er an seinen Platz zurück. Ich wartete, bis
er an der Reihe war. Es waren noch zwei Redner vor ihm.
Alle möglichen Leute waren gekommen. Arme jeder Rasse, jeder Hautfarbe, jeden Glaubens. Und alle waren sonntäglich gekleidet. Armut war nicht exklusiv. Man brauchte nicht hier geboren zu sein, um kein Geld zu haben. Am Rande der Menge standen berittene Polizisten. Sie saßen auf schönen rötlichbraunen Pferden und hielten ihre Gummiknüppel fest in der Hand. Sie wirkten einsatzbereit.
Wieder sah ich zur Rednertribüne. Der erste Redner war fertig, und der nächste stand an seinem Platz. Mir war warm. Daher ging ich zurück an den Rand der Menge, kaufte mir eine Flasche Coca-Cola und drängte mich dann wieder bis in die vordere Reihe durch. Gerro saß jetzt weiter vorn, ganz nahe an den Stufen. Als ich meine Flasche ausgetrunken hatte, suchte ich nach einem Platz, wo ich sie abstellen konnte, aber ich fand keinen. So behielt ich sie in der Hand.
Das erste, was ich von dem Tumult sah, war, daß die Menge sich auf die Rednertribüne zu bewegte. Dann hörte ich ein paar Leute schreien: »Los! Auf sie!« Gerro erhob sich von seinem Stuhl und blickte über das Geländer. Ich stellte mich auf einen Platz, wo ich besser sehen konnte, was passierte. Ich sah, wie sich ein paar Männer prügelten. Als ich mich nach Gerro umwandte, stieg er gerade die Stufen hinab, mitten in die Menge hinein. Von der anderen Seite her ritt ein Polizist in die Masse. Die Leute wichen vor seinem Pferd zurück.
Dann ging alles sehr schnell. Gerro sprang zwischen die beiden Streitenden und versuchte, sie auseinanderzubringen. Der Polizist ritt herbei. Er schwang seinen Knüppel und rief ihnen etwas zu, aber ich konnte nicht hören, was er sagte, weil die Menge zuviel Lärm machte. Ich sah, wie Gerro hochsprang und nach dem Arm des Polizisten zu greifen versuchte. Ich wußte, daß er den Polizisten nur daran
Weitere Kostenlose Bücher