Die Moralisten
einstellte. Sie war noch minderjährig.«
»Ach«, sagte Vito.
»Dann wurde sie in eine Anstalt gesteckt, weil sie mit einem Küchenmesser auf ihren Stiefvater losgegangen war. Ich habe noch einmal von ihr gehört, als sie herauskam, habe dann aber jede Spur verloren«, fuhr Joker fort. Er machte dem Kellner ein Zeichen, ihm noch etwas zu trinken zu bringen. »Ross hatte stets eine Schwäche für dieses Mädchen, aber sie mochte ihn nicht. Da war noch ein anderer, ein Freund von Ross. Das war ihr Freund.«
»Und was dann?«
»Sie kam in diese Anstalt, wie ich schon sagte«, erzählte Joker. »Was danach geschehen ist, weiß ich nicht.«
Vito war zu sehr Jurist, als daß er sich mit halben Sachen abfinden konnte. »Ich meine diesen jungen Mann, mit dem Ross befreundet war. Was ist aus ihm geworden?«
»Er ist zur Polizei gegangen, jetzt ist er Soldat. Ross hat es einmal erwähnt, bevor er nach Westen fuhr.« Joker nahm nachdenklich einen Schluck. »Schon als Kind war sie ein tolles Weib. Schon damals machte sie alle Männer verrückt. Ist sie immer noch so?«
Vito lachte auf.
Joker hob eine Hand. »Du brauchst mir nichts zu sagen, ich weiß Bescheid.« Er zündete sich eine Zigarette an, und Vito bemerkte, daß seine Hände zitterten. »Ich hatte selber große Pläne mit diesem Mädchen«, erklärte Joker.
Das Klingeln des Telefons drang gedämpft bis in ihren Schlaf. Sie drehte sich auf dem Bett herum und drückte ihr Gesicht ins Kissen. Das Klingeln hörte jedoch nicht auf. Widerstrebend erwachte sie. Nur in besonderen Fällen ließ der Kundendienst das Telefon klingeln. Sie griff zum Hörer. »Hallo«, sagte sie.
»Maryann?« fragte eine vorsichtige Stimme. »Hier ist Frank.« Jetzt war sie hellwach. Es war Frank Millersen, Detektivleutnant Millersen. »Wieder etwas Unangenehmes, Frank?« fragte sie und sah auf die Uhr. Es war fast zehn Uhr morgens. Seit sie damals wegen schweren Diebstahls unter Anklage gestellt worden war, hatte er nicht mehr angerufen.
»Nein.« Die vorsichtige Stimme lachte leise auf. »Mit dir hat es nichts zu tun.«
Sie seufzte erleichtert auf. Es war lange her, seit Millersen sie verhaftet hatte. Damals war sie noch sehr unerfahren gewesen. Dreißig Tage hatte sie sitzen müssen, hatte sich aber mit ihm angefreundet. »Was ist los?« fragte sie, und ihre Stimme klang
?
belegt. »Willst du zu mir kommen«
Wieder lachte die Stimme auf. »Nein, danke, Maryann. Das kann ich mir mit dem Gehalt eines Polizeibeamten nicht leisten.«
»Du weißt genau, Frank, bei dir spielt Geld keine Rolle«, entgegnete sie. »Ich mag dich.«
»Verführ mich nicht, Maryann«, rief er lachend. »Ich habe dich nur angerufen, um dir zu sagen, daß ich den ehemaligen Polizisten gefunden habe, nach dem du mich vor einigen Monaten gefragt hast. Ich meine den, der zur Armee gegangen ist. Mike Keyes, der Bruder deiner Freundin.«
Jäh durchrieselte sie die Erregung. Sie hatte Millersen damals sofort angerufen, nachdem sie Ross verlassen hatte, und ihm das erste beste erzählt, was ihr einfiel. »Ach was!« rief sie und versuchte, ihre Stimme zu beherrschen. »Wo ist er denn?«
»Im Lazarett von St. Alban«, antwortete er. »Seit drei Wochen.« Gegen ihren Willen schlug die Sorge in ihrer Stimme durch. »Er ist verletzt?«
»Ja. Aber nach allem, was ich gehört habe, nicht so schlimm. Morgen früh erhält er einen Urlaubsschein für das Wochenende. Wenn deine Freundin ihn sehen will, sollte sie am besten noch vor acht Uhr dort erscheinen. Sonst ist es zu spät. Du weißt doch, wie die Soldaten sind.« Millersen lachte wieder in sich hinein. »Der letzte Mensch, nach dem sie Ausschau halten, ist die eigene Schwester.« »Vielen Dank, Frank«, sagte sie und legte den Hörer auf. Sie griff nach einer Zigarette und zündete sie nachdenklich an. Im blauen Rauch sah sie Mikes Gesicht vor sich. Und sie entsann sich auch des Schmerzes in seinen Augen, als sie ihn das letztemal gesehen hatte. Sie fragte sich, was er wohl während seines Wochenendurlaubs unternehmen würde. Seine Eltern waren in Kalifornien. Das hatte man ihr erzählt, als sie in dem Haus anrief, in dem Mike gewohnt hatte. Sie fragte sich auch, ob er wohl eine Freundin hatte, die er aufsuchen würde. Dieser Gedanke schmerzte sie. Wahrscheinlich dachte er überhaupt nicht mehr an sie. Langsam zerdrückte sie die Zigarette im Aschenbecher. Sie bedauerte, jemals dem Impuls nachgegeben zu haben, Frank darum zu bitten, Mike für sie ausfindig zu
Weitere Kostenlose Bücher