Die Moralisten
gefiele.
Er hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Immer wenn er sie sah, verspürte er eine leichte Unruhe. Es lag in ihr etwas so Natürliches und Lebendiges, es ging eine solche Kraft von ihr aus, daß man fast das Gefühl einer körperlichen Berührung hatte. Nun verschwand das Lächeln von seinen Lippen, und er streckte die Hand aus. »Maryann«, sagte er.
Sie ergriff sie. Ihr Händedruck war warm und fest. Ihre gleichmäßigen weißen Zähne schimmerten auf.
»Joker«, rief sie, »es ist lange her, seit wir uns das letztemal sahen.«
Er nickte. »Vier Jahre.« Er machte ein Zeichen zum Fenster hin. »Michelle war damals erst zwei Jahre alt. Sie ist jetzt ein großes Mädchen.«
Maryann lächelte. »Sechs Jahre.«
»Sie ist ganz die Mutter und wird eines Tages die Herzen der Männer brechen«, sagte Joker Martin lachend.
Ein seltsamer Ausdruck glitt über Maryanns Gesicht hin. »Das hoffe ich nicht«, erwiderte sie heftig.
Joker Martin holte seine Zigaretten hervor. »Sie haben dabei nicht schlecht abgeschnitten.«
Ein Schatten verdunkelte ihre Augen. »Es kommt ganz darauf an, wie man es betrachtet, Joker. Jeder sucht etwas anderes.« »Richtig«, antwortete er.
Sie zog an der Klingelschnur neben dem Fenster. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen lassen, während Sie warten, Joker? Ross wird erst in etwa einer Stunde nach Hause kommen.«
»Danke, gern, ich kann was brauchen.«
Sie sah ihn scharf an. »Ist etwas geschehen?«
Seine Augen blickten listig. »Es kommt ganz darauf an, wie man es betrachtet, Maryann.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Diesmal bin ich nicht gekommen, um mit Ross zu sprechen. Ich habe mit Ihnen zu reden.«
Ihr Gesicht war undurchdringlich. »Ja?« Sie hatte gerade das richtige Maß höflicher Neugier in ihre Stimme gelegt.
Der alte Diener trat ein. »Bitte, Mrs. Drego?«
Maryann wandte sich nach ihm um. »Bringen Sie Mr. Martin einen Whisky.«
Der Alte drehte sich um und verschwand, während Joker ihm nachblickte. »Wie ich sehe, haben Sie noch immer den gleichen Mann.«
Sie nickte. »Ich wüßte wirklich nicht, wie ich jemals ohne Tom auskommen sollte. Er ist für mich ein wirklicher Freund geworden.« »Hat er nicht früher bei diesem Millionär gearbeitet, der bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen ist? Wie hieß er doch noch?«
»Gordon Paynter«, antwortete sie. »Als ich davon hörte, bin ich hingefahren und habe Tom aufgesucht. Ich hatte Glück, daß er sich bereit erklärte, zu mir zu kommen. Gordon hat ihm ziemlich viel hinterlassen.«
»Dann haben Sie Paynter gekannt?« Seine Stimme klang erstaunt. »Ich habe ihn gekannt«, antwortete sie kühl. »Wir hätten fast geheiratet.«
Tom kam mit Whisky, Gläsern und Eis zurück. »Soll ich einschenken, Ma’am?« fragte er.
Maryann nickte. Sie schwiegen, bis Tom ihnen die Gläser gereicht und das Zimmer verlassen hatte. Dann hob Joker Martin sein Glas. »Auf Ihre Gesundheit.«
»Danke«, erwiderte sie höflich. Sie setzte sich in einen Sessel dem Kamin gegenüber und sah ihn gespannt an. Sie hatte etwas an sich, das ihn an eine Katze erinnerte. Vielleicht war es der Schnitt ihrer Augen oder die Art und Weise, in der sie dasaß, gespannt und wachsam.
»Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche Veränderungen an Ross bemerkt?« fragte er plötzlich.
Der Ausdruck ihrer Augen blieb fast der gleiche. Es lag in ihnen eine Abwehr, die er vorher nicht bemerkt hatte. »Was wollen Sie damit sagen?« entgegnete sie.
Seine Stimme klang schroff. »Sie wissen genau, was ich meine.« Sie antwortete ihm nicht.
»Ross ist auf dem besten Weg, ein mächtiger Mann zu werden«, erklärte er. »Es gibt Leute, die sich damit nicht abfinden wollen.« »Er ist sehr nervös«, erwiderte sie. »Er arbeitet zu angestrengt.« »Das tue ich auch«, sagte Joker kühl. »Eine ganze Menge Menschen tun das, aber trotzdem benehmen sie sich nicht wie Ross.« »Sie kennen doch Ross«, seufzte sie. »In mancher Hinsicht ist er wie ein Kind.«
»Ich kenne Ross«, antwortete er. »Deswegen bin ich ja hier.« Ihre Augen sahen ihn fest an. »Und was erwarten Sie von mir?«
Er trat an den kleinen Tisch und schenkte sich noch einen Whisky ein. Dabei blickte er aus dem Fenster. Das Kind und die Negerin kamen auf das Haus zu und verschwanden um die Ecke herum. »Lieben Sie Ross?« fragte er.
In ihrer Stimme lag eine leichte Mahnung. »Joker, ist das nicht eine törichte Frage?«
Er wandte sich vom Fenster ab und sah sie an.
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