Die Moralisten
Leben nicht weg, mein Junge.«
»Darf ich jetzt gehen, Sir?« erwiderte Mike nur.
Die Stimme des alten Mannes verriet jetzt einen Anflug von Verachtung. »Nur selten irre ich mich in einem Menschen. Aber als ich Sie einstellte, habe ich mich tatsächlich geirrt.«
Mike schoß das Blut ins Gesicht. Er biß sich auf die Lippe. Auf keinen Fall wollte er sich zu einer heftigen Antwort hinreißen lassen. »Schlimm genug, was ich im Fall Millersen schlucken muß. Aber
feststellen zu müssen, daß Sie ein Feigling sind, übertrifft alles.«
Plötzlich veränderte sich sein Ton. »Ich bin ein alter Mann, Mike, und habe einen großen Teil meines Lebens in dieser Behörde
verbracht. Alles, was ich erreichen wollte, war, eine gute, eine
ehrliche Arbeit zu leisten, um die Menschen zu schützen, die mir ihr Vertrauen schenkten. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dieses Vertrauens nicht würdig zu sein.«
»Sie haben dieses Vertrauen durchaus verdient, Sir«, entgegnete Mike. »Auf Ihrem Schreibtisch befinden sich alle Unterlagen, die das beweisen.«
»Ich bin für jeden Mann in meinem Amt verantwortlich«, fuhr der Alte fort. »Ich muß für Millersen den Kopf hinhalten, und ich werde es auch für Sie tun. Oberstaatsanwalt zu sein, erschöpft sich nicht darin, vor eine Geschworenenbank hinzutreten, die einzelnen Punkte der Anklage vorzubringen und eine Verurteilung herbeizuführen. Man hat auch ein Ehrgefühl. Man setzt seine Ehre daran, seine Pflicht ohne jede Furcht und ohne jede Begünstigung zu erfüllen. Wenn Sie jetzt zurücktreten, ist es genauso, als ob ich zurücktrete. Die ganze Welt wird das wissen.«
Mike sagte nichts.
»Na gut«, sagte der Alte. »Nehmen Sie Ihren Abschied, wenn Sie es so wollen. Aber bringen Sie zumindest den Anstand auf, mir Ihre Gründe zu nennen. Ich weiß ganz genau, daß Sie kein Feigling sind.« Mike räusperte sich. Plötzlich bemerkte er, daß seine Hände zitterten. »Sagen Sie es mir, Mike«, bat der Alte freundlich. »Sie waren ein tüchtiger Polizeibeamter, und Sie waren ein guter Staatsanwalt.
Warum geben Sie auf?«
Mike blickte dem Alten fest in die Augen. »Sie war mein Mädchen, Sir.« Seine Stimme klang dumpf.
»Sie?« Der Alte sah ihn verwundert an. »Wer?«
»Marja. Ich meine Maryann Flood.«
»Diese Maryann Flood?«
Mike nickte.
»Aber - wieso?« Der Alte war verwirrt.
»Ich habe nicht gewußt, daß sie in die ganze Sache verwickelt war, als ich Alec vor drei Wochen anrief und ihn bat, in die Sache Park Avenue Models hineinzuleuchten.« Mike zündete sich eine Zigarette an. »Hätte ich es gewußt, dann hätte ich gar nicht erst angefangen, mich mit diesem Fall zu befassen.«
Der Oberstaatsanwalt sah ihn an. Seine Augen verrieten, daß er zu begreifen begann. »Ich hatte also doch recht«, sagte er leise. »Ich hatte also mit meinem Urteil über Sie doch recht.«
Mike fuhr fort, als hätte er die Worte des Alten nicht gehört.
»Als ich dann den Bericht erhielt, mußte ich weitermachen.
Ich habe meine Eingabe vorgelegt und den Auftrag erhalten, die Ermittlungen weiterzuführen. Wir zapften das Telefon an und begannen, alles zu überprüfen. Es klärte sich dabei sehr vieles auf, und wir erfuhren Dinge, von denen wir nicht das geringste geahnt hatten. Zum Beispiel auch, warum so viele unserer Razzien mißlungen waren. Besonders als wir ihre erste Festnahme überprüften und entdeckten, daß Frank Millersen der Beamte gewesen war, der sie damals verhaftet hatte. Noch offensichtlicher wurde die Sache, als wir herausfanden, daß er an die zwanzigtausend Dollar im Jahr auf der Bank zurückgelegt hatte. Es gibt auf der ganzen Welt keinen Polizeibeamten, der das nur mit seinem Gehalt fertigbringt. Von da war es nur noch ein kurzer Weg zu den Geschäftsleuten, die ihr das alles ermöglichten, zu den Politikern, die sie bestach, und zu den Polizeibeamten, deren sich die einzelnen Mädchen annahmen. Ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatte, war die Ermittlung auch beendet. Alle Vorbereitungen waren getroffen, um vor einem Geschworenengericht die Anklage zu erheben. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich es nicht tun könnte. Deshalb habe ich Joel Rader gebeten, es für mich zu übernehmen.«
Der Alte sah ihn an. >,Sie haben sich krank gemeldet.«
Mike nickte. »Ich war auch krank. Innerlich.«
»Aber Sie sind hierhergekommen, während Joel noch immer im Gerichtssaal
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