Die Moralisten
heraus.
Draußen stand Mr. Rannis und sah sie mißtrauisch an. »Wer war das?«
»Eine Freundin«, antwortete sie abweisend und ging auf die Tür zu. Er streckte seine Hand aus und hielt sie zurück. »Wie wär’s mit einer kleinen Tafel Schokolade?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Sie wollte weitergehen, aber der Griff um ihren Arm wurde fester.
»Ich habe dich nicht um das Geld gebeten«, sagte er.
Sie lächelte. »Das würde Ihnen auch nichts nützen. Ich bin pleite.« Sie machte sich von ihm frei. »Außerdem muß ich jetzt gehen. Meine Mutter wartet auf mich.«
Widerstrebend ließ er sie zur Tür gehen. »Vergiß nicht, Marja«, rief er ihr nach, »wenn du mal was haben willst, brauchst du mich nur zu fragen.«
»Danke, Mr. Rannis, ich werde es nicht vergessen.«
Katti trat gerade aus der Tür, als Marja vor den Stufen zu ihrem Haus angelangt war. Sie blieb stehen und sah, wie die Sonne auf dem Haar ihrer Tochter schimmerte. Sie wartete, bis Marja die Hälfte der Stufen hinter sich und ihr ein »Hallo, Mama!« zugerufen hatte, bevor sie sprach.
»Ist in der Schule alles glatt gegangen?« fragte Katti.
Marja streifte ihre Mutter mit einem raschen Blick. »Ja«, antwortete sie, »warum sollte es nicht?«
Katti fühlte sich in die Defensive gedrängt. »Ich habe nur so gefragt«, entgegnete sie. Sie wollte auch noch sagen, wie leid es ihr tat, was am Morgen geschehen war, aber sie brachte es nicht über die Lippen.
»Wohin gehst du?« fragte Marja.
»Einkaufen«, erwiderte Katti. Das war gelogen. Aber sie wollte ihre Tochter nicht wissen lassen, daß sie zu einer Untersuchung ins Krankenhaus ging. »Was hast du heute nachmittag vor?«
»Ich gehe zu einer Freundin. Wir wollen zusammen arbeiten«, antwortete Marja. »Ich bin nur nach Hause gekommen, um dieses Zeug loszuwerden. Ich bin völlig durchweicht.« »Sei leise«, bat Katti. »Der Kleine schläft, und ich möchte nicht, daß er aufwacht.«
»Natürlich«, sagte Marja.
Sie ging hinauf und öffnete leise die Tür. In der Wohnung war es ganz still. Sie trat in die Küche, blieb in der Mitte stehen und horchte. Kein Laut war zu hören. Behutsam ging sie den Gang entlang bis zum Wohnzimmer und blickte hinein.
Ihr Stiefvater saß in der Nähe des offenen Fensters in einem Sessel und schlief; der Kopf hing herab, und auf seinen Knien lag die Zeitung. Auf Zehenspitzen ging sie den Gang entlang in ihr Zimmer. Das Kind schlief in seinem Bettchen. Vorsichtig öffnete sie die Tür des Wandschrankes und holte eine frische Bluse und einen sauberen Rock heraus. Sie legte sie aufs Bett und daneben frische Wäsche. Schnell schlüpfte sie aus Bluse und Rock und ging in die Küche hinüber.
Sie drehte den Wasserhahn auf, aber nur so weit, daß ein kleiner Strahl heraussickerte. Jedes Geräusch mußte vermieden werden, um den Stiefvater nicht zu wecken. Sie warf ihren Büstenhalter über die Lehne eines Küchenstuhls. Einen Augenblick später hatte sie ihren Oberkörper eingeseift. Es dauerte nicht lange, bis sie die Seife mit einem Waschlappen abgewaschen hatte. Dann wusch sie sich das Gesicht. Die Augen fest geschlossen, um keine Seife hineinzubekommen, griff sie nach einem Tuch. Aber der Handtuchhalter neben ihr war leer. Sie suchte beim zweiten.
Sie zog das Tuch herunter und rieb sich kräftig das Gesicht ab, dann die Achselhöhlen und den Oberkörper. Sie hängte das Handtuch zurück und griff hinter sich nach dem Büstenhalter. Er hing nicht mehr auf dem Stuhl.
Automatisch drehte sie sich herum und suchte ihn auf dem Boden. Die Stimme ihres Stiefvaters ließ sie zusammenfahren. »Er ist heruntergefallen, Marja«, sagte er und hielt ihn ihr hin. »Ich habe ihn für dich aufgehoben.«
Sie starrte ihn einen Augenblick an, und ihre Augen verrieten Überraschung. Dann streckte sie die Hand aus und nahm den Büstenhalter. »Ach - vielen Dank«, sagte sie spöttisch und hielt ihn vor sich hin. »Er hat wohl beim Herunterfallen einen solchen Lärm gemacht, daß du davon aufgewacht bist.«
Ein Lächeln glitt langsam über sein Gesicht, und er überhörte den Spott in ihrer Stimme. »So hat deine Mutter damals ausgesehen, drüben in Europa, als wir noch jung waren.«
»Wie willst du denn das wissen?« fragte sie verächtlich. »Damals hat sie nicht einmal gewußt, daß es so etwas wie dich überhaupt gibt.« Sie wollte an ihm vorbei, aber er trat ihr in den Weg.
Er ergriff ihren Arm. »Warum bist du mir gegenüber so gemein?«
Sie starrte ihm
Weitere Kostenlose Bücher