Die Moralisten
ging weiter.
Die Fürsorgerin folgte dicht hinter ihr. »Das ist ein netter junger Mann«, sagte sie freundlich. »Ist das dein Freund?«
Marjas Augen waren abweisend. »Ich weiß nicht, wer er ist. Ich habe ihn noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.«
Der Richter war ein müder, gelangweilt aussehender alter Mann.
Er blickte auf Marja herab. »Du bist angeklagt, deinen Stiefvater mit einem Messer angegriffen zu haben.«
Sie antwortete nicht.
»Ist Mr. Ritchik hier?« fragte er und wandte sich dem Gerichtsschreiber zu.
Der Gerichtsschreiber rief: »Mr. Ritchik!«
Peter Ritchik näherte sich aus dem Hintergrund. Sein Gesicht war noch immer mit einem großen weißen Verband bedeckt. Marja sah ihn an. Sie hatte das Gefühl, als sei er ein Fremder. Die fünf Wochen, die seit ihrer letzten Begegnung verstrichen waren, kamen ihr wie eine Ewigkeit vor.
»Mr. Ritchik«, forderte der Richter ihn auf, »würden Sie uns bitte den Hergang der Ereignisse schildern.«
Peter räusperte sich nervös. »Sie taugt nichts, Euer Ehren. Eine Herumtreiberin. Auf niemanden hat sie gehört. Sie hat in einem Tanzlokal gearbeitet und ist keine Nacht nach Hause gekommen. Wenn sie kam, war es meist sehr spät. In jener Nacht habe ich ihr Vorhaltungen gemacht und ihr gesagt, sie sollte zu einer schicklichen Zeit nach Hause kommen wie andere Mädchen auch. Als ich dann eingeschlafen war, hat sie sich in mein Zimmer geschlichen und mir diese Schnittwunde beigebracht.«
Marja mußte lächeln. Wenn es nicht um das Andenken ihrer Mutter gegangen wäre, hätte sie ihnen schon gesagt, was sich wirklich ereignet hatte.
Es war sehr schnell vorbei. Sie stand vor dem Richtertisch, während der Richter sie teilnahmslos über seine Brille hinweg ansah.
»Marja«, verkündete er, »du wirst bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr in die Rose-Geyer-Besserungsanstalt für Mädchen eingewiesen. Ich hoffe, daß du deine Zeit dort gut nützt, einen Beruf erlernst und dich an einen christlichen Lebenswandel gewöhnst.«
Sie sah ausdruckslos zu ihm auf.
»Irgendwelche Fragen?« fuhr er fort.
Sie schüttelte den Kopf.
Er schlug mit seinem Hammer auf den Tisch und erhob sich. Alle Anwesenden erhoben sich ebenfalls, als er gewichtig hinausschritt. Die Tür schloß sich hinter ihm, und die Fürsorgerin wandte sich Marja zu.
»Komm mit mir, Marja.«
Wie benommen folgte ihr Marja. Mike stand noch immer hinter der Schranke. Er wollte ihr etwas sagen, aber sie blickte durch ihn hindurch. Er sah sie traurig an. Erst als sie die Tür hinter sich hatte, wurde ihr bewußt, daß er weinte.
Das Rose-Geyer-Heim befand sich am äußersten Ende von Bronx. Sie betrachtete es neugierig, als sie zusammen mit dem Polizisten und der Fürsorgerin ausstieg. Hier draußen war man schon fast auf dem Lande. Die Anstalt lag auf freiem Feld.
Eine Stunde später wurde sie von einem der Mädchen zum Sprechzimmer des Arztes begleitet; das Mädchen sah sie fragend an, sagte aber kein Wort, als sie den langen grauen Gang entlanggingen. Sie hielt Marja die Tür auf. »Hier herein«, forderte sie sie freundlich auf. Dann folgte sie Marja in den Raum. Ein magerer grauhaariger Mann blickte auf. »Ich habe einen neuen Fisch für Sie, Doktor«, sagte das Mädchen.
Der Arzt zuckte müde die Achseln. »Dort hinein.« Er deutete auf einen kleinen Raum. »Zieh alles aus.«
Die Untersuchung war kurz, aber gründlich. Zwanzig Minuten, nachdem sie den Untersuchungsraum betreten hatte, zog sie sich wieder an und kehrte in das Sprechzimmer zurück.
Der Arzt gab ihr ein Rezept. »Laß dir das in der Apotheke geben und nimm es während der ganzen Zeit deiner Schwangerschaft«, sagte er. Marja war bestürzt. Sie warf rasch einen Blick um sich. Das Mädchen, das sie begleitet hatte, saß an der Wand. Marja sah den Arzt an. »Wer, ich?« fragte sie ungläubig.
Hinter sich vernahm sie die Stimme des Mädchens. Sie klang kühl, aber nicht humorlos. »Mich hat er nicht gemeint, meine liebe. Ich bin nun schon seit zwei Jahren hier, ohne Mann, hol’s der Teufel!«
Marja sah den Arzt und dann das Papier in ihrer Hand an. Plötzlich wurde ihr klar, was dies alles bedeutete. Sie sank auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch und brach in Lachen aus. Der Arzt starrte sie an. »Was ist denn so komisch?« fragte er.
Sie blickte zu ihm auf, während die Tränen über ihre Wangen liefen. Das war das Teuflische daran. Er würde es niemals erfahren. Niemand würde es erfahren.
Die Staatsanwaltschaft gegen
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