Die Moralisten
Maryann Flood
Ich wartete, während der Gerichtsschreiber der ersten Zeugin der Staatsanwaltschaft den Eid abnahm. Sie war ein hochgewachsenes Mädchen mit einem auffallenden Scheitel in ihrem langen pechschwarzen Haar. Sie wirkte durchaus ruhig. Die Menschen im Gerichtssaal schienen ihr gleichgültig zu sein. Ihre Augen waren dunkel und unergründlich.
»Ihr Name, bitte?« fragte der Gerichtsschreiber.
»Raye Marnay«, antwortete sie. Ihre Stimme klang für ein so großes Mädchen überraschend hell und schwach.
Der Gerichtsschreiber nickte mir zu. Ich ging langsam auf sie zu. Ich blieb vor ihr stehen und blickte auf. »Wie alt sind Sie, Miß Marnay?« fragte ich.
Die Antwort kam ohne Zögern. »Dreiundzwanzig.«
»Wo sind Sie geboren?«
»In Chillicothe, Ohio.«
»Wann sind Sie nach New York gekommen?«
»Vor etwa zwei Jahren.«
Ich gewöhnte mich allmählich an den seltsam blechernen schwachen Klang ihrer Stimme. »Was haben Sie in Chillicothe getan?«
»Ich habe dort gelebt.«
Ich hörte ein schwaches Gelächter im Gerichtssaal aufsteigen. Ich wartete, bis es verklungen war, bevor ich wieder sprach.
»Ich meinte, Miß Marnay, wovon haben Sie in Chillicothe gelebt?« »Oh«, antwortete sie, »ich hatte nicht verstanden, was Sie meinten. Ich war Lehrerin.«
»Welche Klasse haben Sie unterrichtet?«
»Im Kindergarten«, erklärte sie. »Ich liebe Kinder.«
Ich mußte über die Art, in der sie dies sagte, lächeln. »Daran zweifle ich nicht, Miß Marnay.« Aber dann unterdrückte ich mein Lächeln.
»Und was hat Sie veranlaßt, nach New York zu gehen?«
»Ich wollte gern Schauspielerin werden«, antwortete sie. »Professor Berg, der in den oberen Klassen Theaterunterricht und Ähnliches gab, hatte ein Stück geschrieben, das wir in unserem kleinen Theater aufführten. Der Titel war Großer Jux im kleinen Tal , und ich spielte die Hauptrolle. Er sagte, ich hätte ein großes Talent und es sei eine Schande, daß ich es in einer Kleinstadt wie Chillicothe verkümmern lasse. So beschloß ich, nach New York zu gehen.«
»Und was geschah, nachdem Sie nach New York gekommen waren?« fragte ich.
»Nichts«, antwortete sie. »Wochenlang bin ich herumgelaufen, aber niemand wollte mich auch nur ansehen. Nicht einmal die Empfehlungsschreiben, die Professor Berg mir mitgegeben hatte, nützten etwas.«
»Warum sind Sie dann nicht nach Chillicothe zurückgekehrt?« »Das hätte ich nicht über mich gebracht«, erklärte sie mit ihrer leisen Stimme. »Dann hätten doch alle gewußt, daß ich ein Versager bin.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Und womit haben Sie sich Ihren Lebensunterhalt verdient?«
»Ich habe mir am Broadway eine Stellung als Kellnerin gesucht. Es war ein Lokal, in dem viele Leute vom Theater verkehrten. Ich hatte gehört, daß viele Mädchen, die dort arbeiteten, schließlich doch auf der Bühne gelandet sind.«
»Wie lange haben Sie dort gearbeitet?«
»Ungefähr drei Wochen.«
»Und was ist dann geschehen?«
»Ich wurde entlassen«, antwortete sie mit noch schwächerer Stimme, soweit dies überhaupt möglich war. »Der Geschäftsführer sagte, er hätte ein Restaurant und keine Schauspielschule.«
Wieder durchlief Gelächter den Gerichtssaal. Ich wartete, bis es sich gelegt hatte. »Was haben Sie darauf getan?«
»Ich habe mich nach einer neuen Stellung umgesehen, aber keine gefunden. Eines Tages habe ich mich mit einem anderen Mädchen darüber unterhalten, das in der gleichen Pension wohnte. Sie meinte, mit meinem Gesicht und meiner Figur sollte ich Modell werden. Ich hielt das für einen guten Rat. Viele Modelle werden später
Schauspielerinnen. Ich habe sie dann gefragt, wie man Modell wird. Sie schickte mich zur Agentur Park Avenue Models .«
Ich nickte. »Haben Sie damals zum erstenmal daran gedacht, Modell zu werden?«
»Ja.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Ich bin zur Agentur gegangen und habe mich dort um Arbeit beworben.«
»Mit wem haben Sie dort gesprochen?«
»Mit Mrs. Morris.«
»Was hat sie Ihnen gesagt?«
»Sie hat gesagt, ich sollte einige Aufnahmen von mir machen lassen. Sie würde sie dann in ihre Kartei aufnehmen. Sie gab mir eine Karte, auf der die Namen von ungefähr vier Fotografen standen. Ehe sie die Bilder nicht habe, sagte sie mir, könne sie nichts für mich tun. Ich erklärte ihr daraufhin, daß ich kein Geld für die Aufnahmen hätte. Aber sie blieb dabei, einstweilen nichts für mich tun zu können. Ich wollte gerade gehen, als Miß Flood aus
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