Die Moralisten
hinbringen wird.« Barbara sah hinaus auf die Bucht. Die Golden Gate Brücke mit ihren Lichtern funkelte wie ein Diadem in der Dämmerung.
»Wo ist Judd denn jetzt?« fragte sie.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Sofia. »Er wollte in Washington noch eine Untersuchung mit dem Scanner durchführen lassen. Seine weiteren Pläne kenne ich nicht.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Hat er dir jemals etwas von Xanadu erzählt, Barbara?«
»Xanadu?« wiederholte Barbara. »Ist das nicht eins der neuen Hotels, die Judds Touristikunternehmen jetzt baut? Ich glaube, es steht in Brasilia.«
»Ein Hotel ist es nicht«, widersprach Sofia. »So wie es sich anhörte, als er mit Doc Sawyer sprach, ist es wohl eher ein Laboratorium. Es hieß, daß einige der medizinischen Geräte von Crane Island dort hingebracht werden sollten.« »Dann weiß ich nicht«, sagte Barbara. »Hast du ihn nicht gefragt?«
»Doch«, erwiderte Sofia, »aber er hat immer nur gesagt, ich würde es schon noch erfahren.«
»Dann wirst du wohl abwarten müssen. Ich habe mich ans Warten gewöhnt. Schon als er ein kleiner Junge war, hat er nie etwas gesagt, wenn er nicht wollte, und keine Macht der Welt konnte ihn zum Reden bringen.« Das Telefon summte. »Der Wagen für Frau Dr. Ivancich ist da.« »Vielen Dank«, sagte Barbara. »Sie kommt gleich herunter.«
Sofia sah sie zögernd an. »Hast du ein Foto von meinem Jungen?« Barbara nickte schweigend. Sie nahm ein silbern gerahmtes Foto aus der Schublade und gab es Sofia. Sofia studierte das Bild in allen Einzelheiten. »Wie groß er ist«, flüsterte sie.
»Er ist ja auch schon drei«, lächelte Barbara. »Ein kluges Kerlchen.«
»Er sieht genauso wie Judd aus.« Sofia konnte die Tränen nur mühsam zurückhalten. »Erzähl das doch seinem
Vater.«
»Er wird mir das niemals verzeihen«, seufzte Sofia. »Vor allem, weil ich mich hinter seinem Rücken an dich gewandt habe.« Sie wollte das Foto zurückgeben. »Du kannst es behalten«, sagte Barbara. »Ich habe noch andere.«
Sofia schüttelte den Kopf. »Ich wüßte nicht, wo ich es verstecken sollte. Judd oder einer seiner Leute würden es unweigerlich finden. Irgendwann, vielleicht schon bald, werde ich es Judd erzählen. Aber jetzt noch nicht.« Impulsiv umarmte Barbara die Ärztin und küßte sie auf die Wange. Beiden standen Tränen in den Augen. Sofia nahm die kleine Tasche mit den Disketten und Notizbüchern an sich. Mühsam kontrollierte sie ihre Stimme. »Ich werde dir niemals genug danken können.« Barbara konnte nicht antworten, ihr versagte die Stimme. Sie wartete, bis Sofia den Raum verlassen hatte, ehe sie das Bild auf den Schreibtisch zurückstellte. Sie betrachtete es lange, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. »Lieber Gott«, flü sterte sie. »Bitte hilf ihm, lieber Gott. Hilf uns allen.«
Zwei Sicherheitsleute empfingen Sofia in der Halle und gin gen neben ihr die Treppe hinunter zum Wagen.
Ein dritter Mann hielt ihr den Schlag auf. Als sich die schwere Limousine in Bewegung setzte, stellte Sofia fest; daß sie von zwei weiteren Wagen eskortiert wurden. In jedem von ihnen saßen vier Männer.
Sie lehnte sich in das üppige Polster zurück. Ihre beiden Leibwächter hatten rechts und links von ihr Platz genommen. Der dritte Mann hatte sich neben den Chauffeur gesetzt. Alle drei Wagen glitten unbehelligt auf die Straße hinaus. »Mein Name ist Brad, Frau Doktor«, sagte der Mann, der rechts von ihr saß. »Mein Partner heißt Lance.
Wir fliegen mit Ihnen nach Los Angeles.«
»Ich wußte gar nicht, daß wir nach L. A. fliegen.« »Wenn man es genau nimmt, werden wir in Ontario landen. Auf dem Flughafen von Los Angeles ist zuviel Betrieb.« Brad zog den kleinen Notsitz heraus, der sich in der Trennwand zum Fahrer befand, und setzte sich ihr gegenüber. »So ist es bequemer für Sie«, lächelte er, aber es entging Sofia nicht, daß er einen wachsamen Blick aus dem Rückfenster warf. Er zeigte auf die Tasche mit den Disketten. »Sind das die Akten?«
Sofia nickte.
»Lassen Sie die Tasche im Wagen, wenn wir ins Flugzeug umsteigen«, bat er. »Wir bringen sie dann ins Büro.« »Gut«, nickte sie. Sie bemerkte ein Schild, das zur Brücke nach Oakland hinaufwies. »Fahren wir zum Flughafen Oakland?« fragte sie.
»Ja«, bestätigte Brad. »Dort wartet eine von unseren Maschinen.«
Zwanzig Minuten später rollte der Wagen durch das breite Tor im Maschendrahtzaun, hinter dem sich der Privatflugha fen befand. Sie
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