Die Moralisten
»Ping«. Die Dogge trabte zu einer Hausecke, hob das Bein und wässerte eine Geranie. Dann kippte sie zur Seite und schlief ein. Alana erreichte den Eingang als erste. Sie öffnete und schlüpfte ins Haus. Judd, John D. und die anderen folgten. So leise, wie es auf dem Marmorfußboden ging, schlichen sie zu dem roten Vorhang, der sich vor ihnen blähte. Vorsichtig schob ihn Alana ein Stückchen beiseite. Judd spähte in den hellerleuchteten Innenraum des Ashrams und sah als erstes den Rücken des Maharishi. Dahinter hockten fünfzehn oder zwanzig junge Mädchen in der Lotusposition auf dem Boden und starrten ihren Lehrer fasziniert an. Lautlos winkte Judd seinen Leuten, sich links und rechts zu postieren, um den Maharishi ergreifen zu können, sobald er das Signal gab. Dann trat er hinter dem Vorhang hervor. Er hatte kaum zwei Schritte getan, als er sich von zwei starken Armen gepackt fühlte, die ihn wie Schraubstöcke umklammerten. Während ihn der unsichtbare Angreifer hochhob, erreichte ein heiseres Flüstern sein Ohr: »Keine Bewegung. Wenn Sie sich wehren, sind Sie ein Krüppel.«
Judd keuchte, versuchte sich zu befreien und wurde krachend zu Boden geschleudert. Aber bevor ihm der Angreifer den Rest geben konnte, hörte man ein deutliches »Ping«, und der Riese sank lautlos in sich zusammen.
Statt des heiseren Flüsterns war jetzt eine andere, tiefere Stimme zu hören. »Mr. Crane«, sagte sie ruhig. Judd sah, wie der Maharishi sich umdrehte. »Ich habe Sie schon lange erwartet. Vielleicht wa rtete ich schon viel länger auf Sie, als Sie glauben.« Eilig bemühte sich Judd, auf die Beine zu kommen.
Auch der Maharishi erhob sich. Er wirkte sehr groß und asketisch. Ein langes, fließendes Gewand hüllte ihn ein, das von seinen Schultern bis zu seinen Sandalen herabreichte. Die Mädchen im Hintergrund wurden nervös. Einige hatten zu weinen begonnen, andere waren aufgestanden und wollten davonlaufen, wußten aber nicht recht, wohin. Der Maharishi beruhigte sie. »Fürchtet euch nicht, meine Kinder«, rief er laut. »Bewahrt eure innere Ruhe. Es wird euch kein Leid geschehen. Diese Männer kommen als Freunde, um Erkenntnis und Weisheit zu suchen.«
Die Mädchen setzten sich wieder und schlugen die Beine übereinander. Der Maharishi wandte sich wieder an Judd. »Für unsere Gespräche wäre es nützlich, wenn Sie Ihre Männer dazu veranlassen könnten, den Ashram zu räumen. Die Anwesenheit so vieler Fremder stört unsere Ruhe und Kon zentration. Wir alle wissen, daß sich das Leben von einer Unendlichkeit in die andere bewegt.« Er kam vom Podium herunter und ging auf Judd zu. Seine bernsteinfarbenen Augen schienen Judd zu durchbohren. »Wir haben viel miteinander zu reden, mein Sohn.« »Ja.« Judd schluckte leer.
Der Maharishi nickte. »Aber jetzt muß ich ruhen. Ich bin nicht mehr so jung, daß ich ohne Sc hlaf auskommen könnte. Ich gehe davon aus, daß es ungefähr sechs Stunden dauern wird, bis Ihre Leute das Gelände verlassen haben und im Ashram wieder Ruhe einkehrt. Ich würde es begrüßen, wenn Sie mich bis dahin entschuldigen würden.
Wir treffen uns dann bei Sonnenaufgang zu unserer Unterhaltung.« Judd schwieg, er wußte nicht, worauf der Maharishi hinaus wollte.
»Ich werde mich an diese Verabredung halten«, versprach der Maharishi. »Ich will Sie nicht täuschen.«
Judd spürte eine unbestimmte Vertrautheit im Wesen des Maharishi, vermochte aber nicht zu sagen, was den Mann so anziehend machte. »Ich kenne Sie«, sagte er tonlos und starrte verwirrt in die topasgelben Augen. »Sie sind ein guter Beobachter«, lächelte der Maharishi. »Mich kennen Sie nicht. Aber Sie haben meine Schwester gekannt.«
»Dr. Zabiski«, rief Judd. »Ja, natürlich!« »Sie war meine ältere Schwester.« »Das erklärt einiges«, sagte Judd. »Aber warum ...« »Ich werde Ihnen alles erklären«, unterbrach ihn der Maharishi. »Meine Schwester war ein Genie. Aber lassen Sie uns bei Sonnenaufgang darüber reden. Jetzt muß ich ruhen.« Der Maharishi musterte die meditierenden Mädchen. »Ich kann mich am besten entspannen, wenn zwei der Mädchen bei mir schlafen. Auf diese Weise kommen Yin und Yang ins Gleichgewicht«, erklärte er. Judd schwieg.
»Ich habe gehört, daß Sie dieses Gleichgewicht auch schon entdeckt haben. Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen Gesellschaft anbieten.«
Judd schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, heute nicht. Ich glaube, heute nacht will ich nur in mir selbst suchen.« »Wie Sie
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