Die Moralisten
zurück. »Wenn das stimmt, ist sein Gesundheitszustand ja ganz ausgezeichnet. Warum sind Sie so beunruhigt?«
Doc Sawyer sah ihr zu, wie sie ihren Tee trank. »Sein Geisteszustand«, sagte er schließlich. »Früher hat er sich niemals gelangweilt. Jetzt ist ihm angeblich alles egal.«
Vielleicht braucht er nicht mich, sondern einen Psychiater«, bemerkte Sofia trocken.
»Vielleicht«, nickte Doc Sawyer. »Aber Sie sind der einzige Mensch, dem ich trauen kann.« Er blickte ihr fest in die Augen. »Helfen Sie mir?«
Sofia erwiderte seinen Blick. »Ich weiß nicht, ob ich von großem Nutzen sein werde, aber ich werde mein Bestes versuchen.«
Doc Sawyer nickte zufrieden. »Eins weiß ich sicher: Wir müssen ihn wieder in diese Welt zurückholen.
Die Unsterblichkeit, der er jetzt nachjagt, ist schlimmer als jeder Verfall.«
3
Ein paar Minuten nachdem Doc Sawyer gegangen war, klopfte es an die Tür. »Her ein«, rief Sofia. Mae trat ins Zimmer. Sie trug eine große Kleiderschachtel. »Mr. Crane schickt Ihnen dies, Ma'am.« Sofia nahm ihr die Schachtel ab, las die Aufschrift und stellte sie auf den Tisch. Christian Dior. »Ach, wären Sie so nett, sie zu öffnen«, bat Sofia die junge Schwarze. »Jawohl, Frau Doktor«, sagte Mae. »Das ist auch noch für Sie.« Sie gab Sofia einen kleinen Briefumschlag. Sofia riß den Umschlag auf und nahm eine Visitenkarte heraus. Auf der einen Seite stand: Judd Crane. Auf der anderen: »Das habe ich für Dich gekauft, aber Du bist gegangen, ehe ich es Dir geben konnte. Ich hoffe, es kommt nicht wieder zu spät. Judd.« Die Schachtel war jetzt offen, und Sofia nahm ein langes weißes Abendkleid heraus, das seitlich bis über die Oberschenkel geschlitzt war. Das Oberteil wurde auf der linken Seite durch zwei dünne Bänder gehalten.
»Oh, ist da schön«, flü sterte Sofia. »Aber ich kann es nicht anziehen. Es ist viel zu eng. Da passe ich bestimmt nicht hinein.« »Warum probieren Sie es nicht einfach mal an?« fragte Mae.
»Ein paar kleine Änderungen macht Max Ihnen gern.« Sofia zögerte. »Ich weiß nicht.«
»Es schadet doch nichts, wenn Sie es probieren«, drängte Mae.
»Warten Sie«, sagte Sofia, nahm das Kleid und ging damit ins Bad. Sie zog sich aus und versuchte, das Abendkleid über ihre Arme zu ziehen. »Ich kriege es nicht über die Schultern«, rief sie durch die offene Tür.
Mae näherte sich. »So geht das nicht«, lächelte sie. »Sie müssen das Kleid von unten nach oben hochziehen.« Sofia folgte der Anweisung der jungen Schwarzen. Das Kleid saß wie angegossen. Sofia trat vor den Spiegel und stellte fest, daß es tatsächlich wie eine zweite Haut war. Ihre Brustwarzen standen deutlich sichtbar heraus, und um ihre Hüften und Schenkel spannte sich der Stoff, als wolle er bersten. Sofia warf Mae im Spiegel einen Blick zu. »Es ist viel zu eng«, sagte sie. »Es platzt bei der ersten Bewegung.«
»Nein«, lachte Mae. »Der Stoff ist elastisch.« »Selbst wenn«, sagte Sofia. »So etwas kann ich nicht tragen.
Ich sehe ja vollkommen nackt aus.« »Mr. Crane wird es sicher gefallen«, widersprach die Schwarze.
Sofia drehte sich um. »Wie kommen Sie darauf?« »Man arbeitet nicht neun Monate lang auf Crane Island, ohne zu wissen, was der Boß mag und was nicht.« »Hat er viele Mädchen hiergehabt?« fragte Sofia. Mae zögerte und gab keine Antwort.
»Sie können ruhig mit mir reden«, lächelte Sofia. »Ich bin seine Ärztin, auch wenn ich eine Frau bin.«
»Ich weiß nicht...«, stotterte Mae.
Sofia versuchte es mit einem Trick. »Fast Eddie hat Ihnen wohl einiges erzählt über mich?« »Ja«, nickte Mae.
»Dann können Sie mir ruhig alles sagen, was ich wissen muß«, sagte Sofia. »Ich bin keineswegs neugierig.
Doc Sawyer hat mich beauftragt, Mr. Cranes Zustand zu überwachen, und je mehr ich weiß, desto besser kann ich ihm helfen.« Mae hielt den Blick auf den gekachelten Boden gerichtet. »Mr. Crane läßt sich jede Woche drei Mädchen vom Festland herüberkommen. Sie bleiben meist eine Nacht oder zwei, und dann läßt er sie wieder zurückbringen.« »Immer dieselben Mädchen?«
»Nein«, erwiderte Mae. »Immer wieder andere. Kein Mädchen kommt zweimal.«
Sofia dachte einen Augenblick nach. »Und jeder hat er so ein Kleid geschenkt?« Mae nickte. »In welcher Farbe?«
»Immer weiß. Er läßt sie aus Paris kommen. Immer vierundzwanzig auf einmal.« Sofia schwieg.
»Sie werden doch niemandem verraten, was ich Ihnen erzählt habe?« fragte
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