Die Moralisten
Mae ängstlich.
»Kein Sterbenswörtchen«, versicherte Sofia. Sie streifte die Träger von den Schultern und zog sich das Kleid aus. »Sie werden es also nicht tragen?« fragte Mae. Sofia gab ihr das Kleid. »Bügeln Sie es mir bitte. Ich werde mich später entscheiden. Jetzt nehme ich erst mal ein Bad. Ich muß nachdenken. Ich rufe Sie dann.« »Jawohl, Frau Doktor.«
Als Mae das Zimmer verlassen hatte, zog sich Sofia den Mor genmantel an, überlegte einen Augenblick und öffnete dann die mittlere Schublade ihrer Kommode. Die kleine Flasche war genau da, wo Eddie gesagt hatte. Das Kokain verschaffte Sofia sofort das Gefühl, die Lage zu überblicken. Noch einmal nahm sie die Karte in die Hand, die Judd ihr geschickt hatte. Merkwürdig. Warum hatte er versucht, sie über das Kleid zu belügen? Es hätte doch völlig genügt, ihr das Paket mit der Bitte zu schicken, das Kleid anzuziehen.
Doc Sawyer hatte recht, Judd hatte sich tatsächlich verändert. Früher hatte er niemals gelogen, er schien es gar nicht zu können. Sie setzte sich auf die Bettkante. Schritt für Schritt überdachte sie noch einmal Judds Therapie. Es hatte so viele Einzelmaßnahmen gegeben, und jede einzelne konnte sein Gemüt verwirrt haben. Im Grunde wußte sie überhaupt nichts. Vielleicht würde es nie jemand wissen.
Nicht einmal Judd selbst Die gewaltige Kuppel, in der Judd sich aufhielt, glänzte wie ein geschliffener Diamant in der Nacht. Die Limousine rollte aus, und Max stellte den Motor ab. »Ich sehe gar keinen Eingang«, rief Sofia, die im Fond des Wagens saß. »Doch, doch«, sagte Max. »Der Eingang ist da. Sie werden gleich sehen, Frau Doktor.«
Einen Augenblick später hörte man das Summen eines starken Elektromotors unter dem Wagen, und vor ihnen öffneten sich zwei große gläserne Türen. Verblüfft bemerkte Sofia, daß sie auf den Eingang zuglitten.
»Eine elektrische Einfahrt?« fragte sie.
»Jawohl, Ma'am, das heißt: eigentlich eine Drehscheibe. Damit keine Autoabgase in die Filteranlagen kommen.« Die Glastüren schlössen sich hinter dem Wagen, und die Drehscheibe kam vor dem inneren Eingang zum Stillstand. Max hielt ihr den Schlag, als sie ausstieg. Im gleichen Augenblick glitten die Schiebetüren beiseite, und Fast Eddie kam ihr entgegen.
»Haben Sie sich ausgeruht, Frau Doktor?« fragte er lächelnd. »Ein bißchen«, nickte sie.
»Gut«, sagte Eddie. »Ich bringe Sie hinauf in Mr. Cranes Wohnung.«
»Wann soll mich Max abholen?« fragte Sofia. »Das ist kein Problem«, sagte Eddie. »Wir haben immer eine Fahrbereitschaft mit mehreren Wagen.« Die Eingangshalle war ein großer, runder Raum mit weißen Wänden. Der Fußboden bestand aus weißem Marmor, der Tisch des Sicherheitsbeamten in der Mitte der Halle hatte ebenfalls eine weiß e Marmorplatte. Die übrigen Möbel be standen aus Stahlrohr und weißem Leder. Der Sicherheitsbeamte selbst trug eine weiße Kasinojacke und weiße, lockere Hosen. Sofia bemerkte, daß er eine große Pistole im Schulterhalfter trug. Auch der prüfende, fast neugierige Blick mit dem der Mann sie musterte, entging Sofia nicht. Sie hörte, wie die Glastür sich hinter ihr schloß.
Weitere Türen aus halbdurchlässig verspiegeltem Glas führten vor der Eingangshalle tiefer in das Gebäude, ließen aber keinerlei Einblicke zu. Zwischen den Türen standen auf matt-glänzenden Stahlsockeln jeweils zwei lebensgroße Statuen aus schneeweißem Marmor. Ob es Adam und Eva oder Apoll und Venus sein sollten, konnte Sofia nicht gleich entscheiden. Nur der unbewegliche
Blick, mit dem die Figuren sich ansahen, über die Zeiten hinweg, beeindruckte sie. Fast Eddie führte sie zur rechten Tür, und auf sein Nikken hin drückte der Sicherheitsbeamte einen Knopf. Die Türflügel glitten zur Seite und gaben den Eingang zum Lift frei. Sie stie gen ein, Fast Eddie drückte einen Sensorknopf, die Türen schlössen sich, und sie fuhren nach oben. Sofia konnte den Sicherheitsbeamten noch einen Augenblick lang hinter seinem Tisch sitzen sehen, ehe sie im Zwischenstock waren. »Sehe ich eigentlich irgendwie merkwürdig aus?«
fragte sie. »Ich fand, daß mich der Sicherheitsmann ziemlich neugierig angestarrt hat.«
»Das war wegen des Saris«, lachte Fast Eddie. »Er hat wegen der bunten Farben gestaunt. Für gewöhnlich tragen hier alle nur Weiß.«
Sofia stellte fest, daß auch Fast Eddie sich an dieses Gesetz hielt. Auch er trug eine weiße Kasinojacke, Leinenhosen und weiße Schuhe. »Und warum?«
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