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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Schneeberg? Er trat zur Seite, um sich ungesehen zu machen, zugleich mit klopfendem Herzen, wie jemand Ertappter. Und da war sie schon aufgesprungen und stand vor ihm, mit dunkelumschminkten, großen Augen. Sie hatte ihn doch wohl nicht erkannt?, sie, das zarteste und schönste der Wesen, nicht nur in dem Zug hier, ihn, den auch von sich selbst längst Abgetanen, den in die fast ersehnte Vergessenheit, auch Selbstvergessenheit, Abgedrifteten und sich da auch, meistens, heimisch Fühlenden? Ja, sie hatte ihn erkannt, und sein erster Gedanke war: O Schreck. Und das Weitere trug in jener Nacht auf der Morawa nicht er vor, sondern die Fremde, die wie auf ein Stichwort sich aus der Bordküche wieder zu uns anderen gesellte. So oft schien er ihr den Fortlauf der Episode erzählt zu haben, daß sie ihn auswendig konnte. (Oder war sie etwa dabeigewesen? Heimlich?) Wollte der Bootsherr so den Eindruck der Eitelkeit meiden? Aber war so, indem er der Zuhörer seines eigenen Abenteuers wurde, die Gefahr, eitel zu wirken, nicht erst recht gegeben? Andererseits ging es des weiteren kaum um ihn.
    Folgendes erzählte uns die Fremde: Das schöne junge Ding hatte den Mann nicht nur erkannt (es sagte nicht wie, von welch, altem Photo immer, vielleicht auch – das wohl über die Zeit Unverkennbarste – von einer Karikatur?). Es, sie war seine Leserin. »Ich kenne Ihre Bücher«, das war ihr zweiter Satz. Wie von selber fiel sein Blick auf das Buch, das sie in der Hand hielt. Nein, es stammte nicht von ihm, gehörte in ein langvergangenes Jahrhundert. Aber es hätte, für Momente, von ihm sein können. Sie staunte ihn an. Daß er lebte. Daß er aus Fleisch und Blut war. Daß er in einem Zug fuhr. Daß er hier war und nicht unerreichbar weit weg irgendwo. Sie zupfte an ihm, seinem Mantel, seiner Rucksacktasche und zog ihn mit sich an die Schlußtür. Dort standen sie nebeneinander und schauten hinaus auf die wegkurvenden Schienen. Sie wußte nichts von ihm, nichts Persönliches, und wollte auch nichts wissen, weder, woher er kam, noch, wohin er unterwegs war; hatte auch keine Ahnung, daß er das Bücherschreiben längst und ausdrücklich hinter sich gelassen hatte – er war und blieb der Autor, hier und jetzt. Ebenso sagte sie nicht, was sie von seinen Büchern hielt, beurteilte sie nicht, erwähnte sie im einzelnen nicht einmal, und anfangs fragte er sich, ob sie ihn nicht mit jemand verwechselte. Aber nein: Er war der Richtige, das ging aus ihrem Reden hervor, welches, so bildete er es sich wenigstens ein, vor einem anderen seiner Zunft (oder wie das nennen?) nie, nie und nimmer, derart offen und selbstverständlich dahergekommen wäre – geradezu zutraulich, wozu paßte, daß sie ihn dabei weiterhin unbefangen berührte, ihm die Hand auf die Schulter legte, ihn im Eifer des Sichaussprechenkönnens auf den Oberarm und gegen die Brust boxte, ihm ein Haar vom Mantel klaubte, dort an einem der Knöpfe drehte, und einmal, ganz bei der Sache oder ihrem Bild von der Sache, selbstvergessen ihn mit der Hüfte anschubste, wie ein ihm zugelaufenes Tier, wie sein Haustier. Zwar mußte er sie immer wieder fragen, damit sie weitersprach. Aber er spürte, sie wollte von ihm gefragt werden. Hätte er sie sozusagen alles fragen können? Sie ausfragen? Nein, nur Harmloses, oder was eben dafür galt. Und gerade das, das Fragen und zugleich Fragen-Vermeiden brachte ihn, dem es von jeher und von Grund auf widerstrebte, Fragen zu stellen, auf die Sprünge. Ein animiertes Spiel entspann sich so zwischen den beiden vor der Glastür, und von außen gesehen schien es, als ob alle die da und dort, manchmal sogar zahlreich die Gleise Säumenden, in Wirklichkeit gekommen für die Abschiedsfahrt des Zuges über den Semmering, ihre Zuschauer wären, ihre Spaliersteher.
    In der Morawischen Nacht übernahm an dieser Stelle wieder der Ex-Autor die Erzählung. Ja, das Mädchen, die Leserin, das »Wesen«, wie sie bei ihm hieß, ging noch zur Schule. Ja, mit den Eltern kam sie gut aus. Mit dem Vater, der gerade ohne Arbeit war und sich für einen neuen Beruf ausbilden ließ, stieg sie oft in die Berge. Zur Schule fuhr sie über fünfzig Kilometer mit dem Bus. Im Winter ging sie die drei Kilometer im Dunkeln nach Hause, ohne Angst. Ja, sie hatte einen Bruder, mit dem es manchmal lustig war. Die Mutter war Lehrerin, für behinderte Kinder, auch weit weg, in der anderen Richtung, und so kochte das Nachtmahl oft der Großvater, der auch noch im Haus wohnte. Aber das

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