Die morawische Nacht
schmeckte ihr weniger. In den Ferien verdiente sie sich Geld als Schwimmlehrerin im Flußbad, mit Nachhilfestunden in Mathematik, Latein und sogar Russisch, was in ihrer Gegend immer wichtiger wurde, und an den Wochenenden in ihrer Schulstadt als Klavierspielerin, in einem Blueslokal, wirklich? ja. Es kam vor, daß sie traurig war, freilich selten. Was sie werden wollte? Sie wußte es nicht. Ins Ausland gehen? Sie wußte es nicht. Für sie gehörte das Lesen einfach dazu. Es war der Hauptantrieb, Motor und Treibstoff in einem. Das Bluesklavier kam erst danach, und es kam aus dem, was sie las. Manche Clubgäste fanden, ihr Spiel habe etwas von einer Klage. »Ein so zartes Klagen«, sagte einmal einer, »unerreichbar von jedem Trost, seiner auch nicht bedürftig.« Eines Tages würde sie dazu singen. Aber jetzt war noch nicht die Zeit. Schreiben würde sie wohl nie, höchstens dann und wann ein Lied – wenn es eben die Zeit wäre. Ihre Eltern lasen nicht, jedenfalls nichts Rechtes. Nicht bloß einmal hatte die Tochter Vater und Mutter dafür getadelt. Auch der Bruder las nicht, aber bei dem war noch Hoffnung. Die Eltern dagegen: eine Schande. Keinen von den beiden hatte sie je mit einem Buch erlebt. Mit dummen, vor allem lauten Verrichtungen beschäftigt, geisterten sie in der Freizeit durch das Haus. Nur was Krach schlug, zählte für die. Aber ja, sie hatte die zwei trotz allem gern, und es lag nicht an Mutter und Vater, daß ihr, der Sechzehnjährigen die heutige Zeit, die Epoche, in der sie lebte, zuwider war. Erklärung dafür? Keine. Sie konnte nur sagen, daß es auch einigen ihrer Freunde und Freundinnen – sie hatte also welche? ja, klar – so erging wie ihr: Isoliert, wie ein jeder einzelne sich fühlte, mit einer Begeisterung, die nirgends mit anderen zusammen, in einer größeren Bewegung, frei werden konnte, mochten sie die jetzige Zeit nicht, lehnten sie, als von ihr Ausgeschlossene, ab, waren bereit, sie, jeder auf seine Weise, zu bekämpfen, Nicht einmal im Rap war mehr eine Hoffnung. Und wenn sie, das Wesen da, sich in eine andere Epoche wünschte, so in keine zukünftige – eine solche konnte sie sich nicht vorstellen –, vielmehr in eine vergangene, auch anderswo. Sie zum Beispiel hätte gern im Amerika der vierziger und fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gelebt, oder im Rußland der Zeit Dostojewskis – trotz der Nihilisten? gerade ihretwegen –, oder, vor allem im vorchristlichen Griechenland des Pythagoras, den sie, das einzige Mädchen unter den Schülern, sich als einen Lehrer dachte, bei dem die Sätze der Mathematik einem nicht nur das Berechnen und Ausmessen beibrächten, sondern einen auch leiteten und ordneten für die Sätze der Sprache, für das Reden und das Schreiben.
Solch ein Wesen. Und daß ein solches Wesen aufwuchs in dem Land, das für ihn, in einer Zwischenzeit zumindest, das Zentrum seiner Vorurteile gewesen war. Verschwinden der Vorurteile: wie kaum etwas sonst erzählenswert. Was war episch fruchtbarer? Und daß ein solches Wesen sich anvertraute gerade ihm. Was für ein Geschenk. Das er nicht verdiente? Das Herz, so sagte er wörtlich, wollte ihm »zerspringen« vor solcher, noch einmal wörtlich, »Unschuld«. Und wieder einmal, ganz und gar nicht zum ersten Mal in seinem Leben, wurde ihm so ein, wie er meinte, unverdientes Beschenktwerden zu viel, und an der Station, da ein Teil des Zuges abgekoppelt wurde für die Steiermark, verabschiedete er sich abrupt von der jungen Leserin, der »Zartesten unter Tausend«, so erschien sie ihm, und stieg aus. Alleinsein – mit dem Nachbild des Wesens.
Wenn er sich für seine Zeit noch einen Maler denken konnte, dann einen Nachbild-Maler. So einer, freilich nur mit dem Finger in die Luft und mit ein paar bloßen Satzumrissen, wurde er jetzt auch in unserer Bootsnacht. Das Nachbild seiner Mitreisenden vor Augen, skizzierte er, wie er sie sich gerade vorstellte. Obwohl es Nacht war, sah er sie wie bei Tage. Während wir hier auf der Morawa in dem Bootssalon saßen, jeder an seinem Tisch, stieg sie, weit weg hinter den Karawanken, mit ihrem Großvater auf eine Alm. Sie hatten im Heu übernachtet, in der Scheune des letzten noch bewirtschafteten Bauernhofs am südlichen Abhang der Saualpe. Zerkratzte Beine hatte sie von dem jahrealten Heu, und staubige Nasenlöcher – aber darum ging es nicht in dem Nachbild. Worum ging es? Um ihr Inneres; um das Innen des Außen. Und sie zusammen mit dem Leuchten der Glimmersplitter auf
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