Die morawische Nacht
handgroße, und wenn einer in seinem Haus saß, wurde seine Anwesenheit angezeigt von einem Bauschen der gehäkelten oder auch nicht gehäkelten Gardine, von einer Radiostimme, und wenn ein solcher sich hinter einer Scheibe sehen ließ, von zwei Händen – wieder nur Hände –, die auf diese oder jene Weise eine sehr kleine, wie für Zwerge gedachte Zeitung hochhielten.
Und ebenso ließ der sich in seiner Abwesenheit erahnen, als Umriß in der grauen Ostwindluft, anhand einer geblümten oder nicht geblümten Kaffeekanne auf dem Fensterbrett, einer Katze auf dem Dach, aus Porzellan oder aus Ton, auch eines ebensolchen Steinbocks auf dem First, erahnen aus einer Mausefalle auf der Verandabrüstung, einem Riesenthermometer an der Hauswand, mit fehlender Quecksilbersäule, und vor allem aus dem Hohlraum unter der Veranda, aus dem Gerümpel dort, auch bloß einem verwitterten, zerbrochenen Pinsel im Staub, mit starrverklebten Borsten, einem Hackklotz ohne Hacke, zerfranst und zerschlissen wie nur ein Hackklotz, der Deckel einer Schuhcremedose, mit jener Blechlasche, mit der man einen Klang erzeugen konnte, und, beschwert vielleicht und wie ohne Absicht mit einem Stein, der Fetzen einer Buchseite, dunkelvergilbt, aber in einzelnen Sätzen, wenn man in die Knie ging, noch lesbar: »… Thymian und Mohn./ Ach, ein fernes Ahnen hat das Herz davon …«
Hinaus aus den Auwäldern und nach wieder einem Steppenband, einem breiten, wo der Ostwind noch zunahm, so daß er einem zeitweise im Gehen ein Bein wegriß und man zwischendurch in der Grätsche stehenbleiben mußte: die Donau, oder, wie sie bei uns auf dem Balkan heißt, der Dunav , männlich. Als ein Strom erschien sie ihm da, kurz nach Wien, wo er sie höchstens als »recht breiten« Fluß erlebt hatte. Das kam wohl auch daher, daß sie hier im Leeren floß, mit der flachen Steppe zu beiden Ufern. Zwar standen an seinem Ufer noch da und dort Hütten. Doch diese hatten eher etwas von Jägersitzen oder Wachposten, mit einem einzigen Raum hoch über dem Erdboden, zu erreichen auf einer leiterhaften Außenstiege, oder überhaupt nur auf einer Leiter. Reusen waren neben ihnen aufgehängt, und als Reusen, größere, erschienen auch die Hütten selber. Leer wie die Ufer auch der Strom da, bis auf einen eisenbahnlangen Lastkahn einmal, den man sich unterwegs vorstellte zum Schwarzen Meer; am nächsten Abend schon würde er die Einmündung der Morawa passieren.
Aber nur nicht vorausdenken. Einen Schritt nach dem anderen machen. Westwärts ging er nun, trotz allem auf die Kapitale zu, die er nie als die seine betrachten hatte können. Gegen die Strömung sich zu bewegen, stromauf, stärkte, das war seine Erfahrung. Außerdem tat es gut, wenn schon allein zu gehen, dann in der Nähe einer großen Stadt, ständig auf diese zu, und ihr dann doch wieder und wieder, mit Blick auf den Stadtrandhorizont, auszuweichen, ohne je recht da einzudringen. Eins seiner Vorhaben von früher: die Metropolen Europas zu Fuß zu umkreisen, wo das irgend möglich war, Tage um Tage, Wochen, einen Monat lang, und ein paarmal, rund um Paris, Madrid, Rom, oder bloß Dresden (bloß?) hatte er das auch annähernd verwirklicht. Wenn es ihn zu Menschen zog, dann zu vielen, und dort, wo die sich zusammenballten, anonym, also weniger in die Dörfer und die Kleinstädte, aber in der Regel genügte es, daß er sie dann nicht allzu fern fühlte.
Gut tat es zudem, sonderbarer Geher, der er war, den Wind nicht im Rücken zu spüren, sondern von vorn, im Gesicht. Und so wünschte er sich jetzt, der Wind möge umspringen von Ost auf West. Und der Wunsch wurde dann auch erfüllt, nur daß mit dem Westwind der Regen kam. Er hätte sich bei einer der Pfahlhütten am Treppelpfad oben auf dem Damm unterstellen können, aber er ließ sich anregnen, als gehöre sich das für seinen Ankunftstag so. Und wenn die Sachen in seinem Tragsack naß würden, vor allem das zuoberst liegende Buch? Sollten sie. Sollte es. Seit jeher, weißt du, hatte es ihm das Abenteuer des Lesens noch verstärkt, sooft das Buch von außen irgendwie beschädigt war, angebrannt, angeschimmelt, mit verklebten Seiten, einem strengen, seinetwegen pilzmodrigen Geruch. Manche neuen, auf das Lesen wartenden Bücher ließ er eigens im Freien, bis sie an der Luft halb vergilbten, sich wellten vom Nachttau oder, warum nicht, einem leichten Regen, und bevor er dann ans Lesen ging, bog er das ganze Buch, was das Zeug hielt, schlug es gegen die Wand, spielte
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