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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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bringen Sie gleich eine Gießkanne mit.»
    Ruth verschwand. Minuten
verstrichen. Dann ein Aufschrei. Unwillig und einen Moment lang erschrocken
stand Frances auf.
    Ruth kniete mitten in einem Flecken
blaßvioletter Blumen, die im Gras hinter der Laube wuchsen. Sie kniete dort wie
in tiefer Anbetung, und Frances, die
neuerliche Emotionsausbrüche fürchtete, sagte scharf: «Was ist denn? Das sind
Herbstzeitlosen, sonst nichts. Ich habe sie vor ein paar Jahren eingesetzt, und
sie haben sich ausgebreitet.»
    «Ja, ich weiß. Ich weiß, daß es
Herbstzeitlosen sind.» Sie hob den Kopf und strich sich das Haar aus den Augen.
Es war, wie Frances
gefürchtet hatte; sie war dem Weinen nahe. «Wir haben jedes Jahr auf sie gewartet, bevor
wir aus dem Gebirge nach Wien zurückgefahren sind. Oberhalb vom Grundlsee waren
ganze Wiesen voller Herbstzeitlosen ... Sie
hatten eine besondere Bedeutung für uns – Hochsommer, aber auch, daß es Zeit
war, wieder Abschied zu nehmen. Ich hätte nie gedacht, daß ich sie hier am Meer
finden würde. Ach, wenn Onkel Mishak doch hier wäre. Wenn er sie nur sehen
könnte.»
    Sie stand auf, aber es fiel ihr
schwer, den Griff des Schubkarrens zu fassen und den Blumen den Rücken zu
kehren.
    «Wer ist Onkel Mishak?»
    «Mein Großonkel – Gartenarbeit ist
das Schönste für ihn. Er hat es sogar geschafft, in Belsize Park einen Garten
anzulegen, und das ist wirklich nicht einfach.»
    «Das kann ich mir vorstellen. Eine
schreckliche Gegend.»
    «Ja, aber die Leute sind nett. Er
hat hinter dem Haus gejätet und umgegraben, und jetzt versucht er, für meine
Mutter Gemüse zu ziehen. Wir bekommen zwar keinen Dünger, aber ...»
    «Wieso nicht? Den gibt es doch
bestimmt überall zu kaufen.»
    «Ja, aber wir können ihn uns nicht
leisten. Aber das macht nichts – wir nehmen einfach die Küchenabfälle und so.
Ach, wenn er die Herbstzeitlosen sehen könnte! Das waren Mariannes Lieblingsblumen.
Sie ist gestorben, als ich sechs war, aber ich weiß noch, wie sie immer auf der
Wiese über dem Grundlsee stand und nur schaute. Wir anderen sind herumgerannt
und haben geschrien, wie schön sie sind, aber Marianne und Mishak haben nur
dagestanden und geschaut.»
    «Sie war seine Frau?» fragte
Frances, der klar war, daß sie informiert werden würde, ob sie es wollte oder
nicht.
    «Ja. Er hat sie über alles geliebt.
Es ist ihm sehr schwergefallen, aus Wien wegzugehen, weil dort ihr Grab ist. Er
ist jetzt alt, aber das hilft auch nichts.»
    «Wieso sollte es?» fragte Frances
kurz und fügte beinahe wider Willen hinzu: «Wie alt?»
    «Vierundsechzig», antwortete Ruth,
und Frances runzelte wieder die Stirn. Für eine Frau von sechzig ist
vierundsechzig nicht alt.
    Ruth warf der ehrfurchtgebietenden
Herrin des Gartens einen Blick zu und traf eine Entscheidung. Man mußte es
verdienen, die Geschichte von Mishak und Marianne zu hören, aber merkwürdigerweise
erschien ihr diese Frau mit dem bitterscharfen Wesen, die Quin in Ruhe gelassen
hatte, wert, die Geschichte zu hören.
    «Möchten Sie hören, wie sie sich
kennengelernt haben, Onkel Mishak und Marianne?»
    «Meinetwegen», antwortete Frances.
    «Also, das war so», begann Ruth,
während sie Kompost in die für die Blumenzwiebeln vorbereiteten Löcher gab.
«Eines Tages vor vielen, vielen Jahren, als der
Kaiser noch auf dem Thron saß, war mein Onkel Mishak an der Donau beim Angeln.
Aber an dem Tag fing er keinen Fisch, sondern eine Flasche.»
    Sie machte eine Pause, um zu prüfen,
ob sie recht gehabt hatte, ob Frances Somerville es wirklich wert war, die
Geschichte zu hören. Ja, sie war es.
    «Und
weiter», sagte Frances.
    «Es war eine Limonadenflasche», fuhr
Ruth fort. «Und in der Flasche war ein Brief ...»
    Spät am Abend dieses Tages stand Frances an ihrem Schlafzimmerfenster
und sah aufs Meer hinaus. Es hatte geregnet, an den Bäumen glitzerten noch
Wassertropfen, aber der Himmel war wieder klar, und der Mond schien auf das
stille Wasser.
    Doch die Schönheit der Natur hatte
kaum eine Wirkung auf Frances. Sie fühlte sich unruhig und verwirrt. Es hätte
alles ganz einfach sein sollen: Verena Plackett, so passend und standesgemäß,
würde Quin heiraten. Bowmont würde gerettet werden, und sie würde, wie geplant,
in das alte Pfarrhaus im Dorf ziehen und dort mit Martha und ihren Hunden in
Frieden leben.
    Statt dessen ertappte sie sich jetzt
dabei, daß sie über eine Frau nachdachte, die sie nie gekannt hatte, ein
reizloses Wesen, das vor vielen,

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