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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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Menschen sterben. Im ersten Moment wußte sie nicht, wo sie
war. Sie sah nur, daß sie in einem großen Bett lag und mit irgendeinem Fell
zugedeckt war – einem Bärenfell oder etwas noch Ausgefallenerem. Als sie es
berührte, erinnerte sie sich.
    Sie war in Quins Turm. Nachdem das
Boot angelegt hatte, hatte er sie hier herauftragen lassen – immer noch böse
und ohne von ihr Notiz zu nehmen, als sie sagte, ihr fehle nichts, sie wolle
mit den anderen ins Bootshaus zurück. Er hatte den Studenten befohlen zu gehen
und nach zwei Männern vom Hof geschickt, um sie ins Haus hinauftragen zu
lassen.
    «Solange der Arzt sie nicht gesehen
hat, kann niemand zu ihr», hatte er gesagt. Es war nicht Fürsorge oder
Besorgnis; das war Strafe.
    «Aber mir fehlt doch gar nichts»,
hatte sie immer wieder beteuert, als später der Arzt gekommen war, ein alter
Mann, und sie untersucht hatte.
    «Ja, ja»,
hatte er nur gesagt und ihr ein Schlafmittel gegeben.
    Aber ihr fehlte doch etwas. Selbst
als Martha mit der Nachricht kam, daß das Hündchen gerettet war, konnte sie
sich nicht richtig freuen. Quins Zurückweisung quälte sie, seine Grausamkeit.
Sie war in Ungnade; sie sollte nach Hause geschickt werden.
    Sie setzte sich auf und ließ die
nackten Füße zu den Holzdielen hinunter. Ein so spartanisches Zimmer hatte sie
nie gesehen; beinahe ganz ohne Mobiliar; Fenster
ohne Vorhänge, durch die das Mondlicht hereinfiel; das Bärenfell achtlos über
das Bett mit seinem einen Kopfkissen geworfen. Es war fast so, als schliefe man
im Freien.
    Das Nachthemd, das sie anhatte,
mußte Frances Somerville gehören. Weit geschnitten, aus dickem weißen Flanell,
fiel es ihr in losen Falten auf die Füße hinunter; ihr Kinn versank fast in den
Rüschen am Hals. Als sie das Licht anknipste, sah sie auf einem kleinen
Schreibpult, das an der Wand stand, die Fotografie einer jungen Frau, deren
schmales dunkles Gesicht ihr überraschend vertraut war. Sie trat mit dem Bild
ans Fenster, um es näher anzusehen.
    «Was tun Sie da?»
    Sie fuhr herum, wieder ertappt, wieder
im Unrecht.
    «Tut mir leid. Ich bin aufgewacht.»
    Quins Gesicht wirkte immer noch
grimmig und verschlossen, aber jetzt bemühte er sich. «Körperlich fehlt ihr
nichts», hatte der Arzt zu ihm gesagt, «aber sie scheint einen seelischen
Schock erlitten zu haben.»
    «Das ist ja wohl verständlich»,
hatte Quin erwidert. «Schließlich wäre sie beinahe ertrunken.»
    Aber der alte Dr. Williams hatte ihn
nur angesehen und den Kopf geschüttelt. Er glaube nicht, daß es das sei, hatte
er gesagt; sie sei ja jung und kräftig und auch nicht lange im Wasser gewesen.
«Seien Sie nicht zu streng zu ihr», hatte er gesagt. «Gehen Sie sanft mit ihr
um.»
    Darum kam er jetzt zu ihr ans
Fenster und sagte: «Fühlen Sie sich besser?»
    «Ja, mir fehlt überhaupt nichts. Am
liebsten würde ich jetzt gleich weggehen.»
    «Das ist leider nicht möglich, armes
Rapunzel; nicht vor morgen früh. Und Ihr schönes Haar ist auch nicht lang
genug, um daran einen Prinzen heraufzuziehen, der Sie retten könnte.»
    «Außerdem sind Prinzen knapp»,
entgegnete sie, um einen leichten Ton bemüht.
    Quin sagte nichts. Früher am Abend
hatte er Sam auf der Terrasse angetroffen, wie er zu Ruths Fenster hinaufsah,
und hatte ihn weggeschickt.
    «Das ist Ihre Mutter, nicht wahr?»
fragte sie, den Blick auf die Fotografie gerichtet.
    «Sind wir
uns so ähnlich?»
    «Ja. Sie hat ein sehr intelligentes
Gesicht. Und so – lebendig.»
    «Ja, ich denke, so war sie auch. Bis ich sie
umgebracht habe.» Jetzt war es Ruth, die zornig wurde. «So ein Unsinn! Das ist doch
absoluter Quatsch. Schmarrn!» rief sie echt wienerisch. «Sie reden wie
ein Küchenmädchen.»
    «Wie
bitte?» sagte er verblüfft.
    Sein Angriff auf dem Boot hatte Ruth
befreit. Sie fühlte sich nicht mehr verpflichtet, ihm gefällig zu sein, auf ihn
Rücksicht zu nehmen; und so nahm sie jetzt kein Blatt vor den Mund.
    «Nein, das hätte ich nicht sagen
sollen. Küchenmädchen sind oft sehr intelligent, wie Ihre Elsie zum Beispiel,
die mir die Namen aller Pflanzen oben auf den Felsen gesagt hat. Aber Sie reden
wie jemand aus einem drittklassigen Liebesroman – Sie, als Mörder Ihrer Mutter!
Na ja, was kann man schon von einem Mann erwarten, der sich mit toten Tieren
zudeckt ... dem das ganze Meer gehört.»
    Besser als gehofft, war es ihr
gelungen, ihn aus der Reserve zu locken.
    «Das Meer gehört niemandem»,
entgegnete er heftig. «Und falls es Sie

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