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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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angefallen wurde und seither
vor Hunden Todesangst hat?»
    «Woher wissen Sie das alles?» fragte
er gereizt. Woher wußte sie nach einer Woche Aufenthalt in Bowmont, daß Elsie
sich für Heilpflanzen interessierte, daß Mrs. Ridleys Großmutter die Darlings
gekannt hatte? Dieser Drang, alles ganz genau wissen, den Dingen auf den Grund
gehen zu wollen, war ja zum Wahnsinnig werden! Der Mann, der sie einmal
heiratete, würde die Wände hochgehen. Heini würde die Wände
hochgehen. «Na ja, wie dem auch sei, mein Vater hat sich davon nie erholt. Er
hat das Gefühl seiner Schuld sein Leben lang mit sich herumgeschleppt. Wahrscheinlich
hat es ihn auch umgebracht – er meldete sich 1916 freiwillig, obwohl dazu
überhaupt keine Notwendigkeit bestand.»
    «Jetzt fangen Sie schon wieder an!
Ihr Engländer seid unglaublich melodramatisch! Eine Kugel hat ihn
umgebracht.»
    «Was ist eigentlich los mit Ihnen?»
fragte Quin, der es nicht gewöhnt war, melodramatischer Neigungen beschuldigt
zu werden, noch dazu von einem jungen Ding, das stark zu Gefühlsausbrüchen
neigte. Und dennoch ging er, völlig perplex über seine eigene Reaktion, zu dem
kleinen Schreibpult an der Wand, sperrte eine Schublade auf und nahm ein altes
Heft mit blau marmoriertem Einband heraus.
    «Lesen Sie es», sagte er. «Das ist
das Tagebuch meines Vaters.»
    Das Heft fiel von selbst bei jener
Seite auseinander, die er hundertmal gelesen und niemals einer Menschenseele
gezeigt hatte. Ruth nahm es und trat näher an die Lampe.
    «Eben bin ich von Claires Beerdigung
zurückgekommen», las sie, «und Marie brachte mir das Baby, als könnte sein
Anblick mich trösten, der Anblick dieses zerknitterten kleinen Geschöpfs mit
seiner unersättlichen Lebensgier. Das Kind hat sie umgebracht – nein, ich habe
sie umgebracht. Ich war klüger als die Ärzte, die mir gesagt hatten, daß sie
kein Kind haben darf. Ich wußte es besser, ich wollte einen Sohn. Ich wollte
den Jungen nach Bowmont bringen und meinem Vater zeigen, daß ich einen Erben
hervorgebracht habe – daß er mich nicht länger zu verachten braucht. Ja,
ausgerechnet ich, der ihn gehaßt hat, der aus Bowmont floh und Reichtum und
Erbe den Rücken kehrte, war genauso verdorben von dem Verlangen nach Macht wie
er. Claire wollte ein Kind; ich versuche, das nicht zu vergessen, aber es war
meine Aufgabe, bedachter zu sein als sie.
    Jetzt muß ich versuchen, dieses Kind
zu lieben, ihm keinen Vorwurf zu machen; aber ohne sie fehlt mir die Lust am
Leben, und ich habe keine Liebe mehr zu
geben. Wenn ich einen Wunsch habe, so den, daß dieses Kind wenigstens sich von
seinem Erbe befreien und ein freier Mensch unter gleichen werden wird.»
    Ruth klappte das Tagebuch zu. «Der arme Mann», sagte sie
leise. «Aber warum balsamieren Sie ihn ein? Sie sollten Radieschen ziehen, wie
mein Onkel Mishak.»
    «Was?» Einen Moment lang fürchtete
er, ihr Verstand hätte unter dem Unfall gelitten.
    «Marianne mochte keine Radieschen.
Seine Frau. Solange sie lebte, hat er nie welche gezogen. Als sie gestorben
war, sagte er, < Jetzt muß ich Radieschen ziehen, sonst bleibt sie für immer
unter der Erde. > Er meinte, daß es den Toten gestattet sein muß, sich in uns
frei zu bewegen, daß man sie nicht einkapseln und in die Form ihrer Vorurteile
pressen darf.» Sie schwieg einen Moment und strich sich das Haar aus den Augen.
Es war eine Geste, die ihm mittlerweile sehr vertraut war. «Seitdem zieht er
mit Begeisterung Radieschen, und ich mag sie nicht besonders, aber ich esse
sie. Wir alle essen sie.» Wieder machte sie eine Pause. «Vielleicht ist es
richtig, Bowmont wegzugeben; ich weiß es nicht, und es geht mich auch nichts an
– aber ganz bestimmt sollte doch Ihr eigener Wunsch dahinterstehen, und nicht
der vermeintliche Wunsch Ihres Vaters. Er hätte sich entwickelt und verändert
und die Dinge vielleicht ganz anders gesehen, wenn er älter geworden wäre.
Überlegen Sie doch nur, wie wütend Sie heute nachmittag auf mich waren – aber
das war nicht immer so, und vielleicht wird es eines Tages wieder vergehen.»
    Quin sah sie an und wollte etwas
sagen. Aber dann nahm er nur das Tagebuch und schloß es wieder im Schreibpult
ein. «Kommen Sie», sagte er, «ich glaube, es ist Zeit, daß Sie den Basher
kennenlernen.»
    Er nahm sein altes Tweedjackett vom
Haken hinter der Tür und legte es ihr um die Schultern. Dann führte er sie nach
unten, und sie gingen durch den Korridor, der den Turm mit dem Haus verband.
Behutsam

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