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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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angerufen, wenn sie
ihr nicht etwas Wichtiges mitzuteilen hätte. Es konnte natürlich gute Nachricht
sein ... vielleicht war Heini wirklich schon angekommen ... ja, das konnte es
natürlich auch sein.
    «Ich komme mit dir», sagte Pilly.
    «Nein, Pilly, ich möchte allein
gehen. Paß du auf den Hund auf.»
    «Wenn Sie mir bitte folgen würden,
Miss. Ich bring Sie zu Mr. Turton. Im Haus geht's gerade ein bißchen laut zu,
weil die Gäste alle kommen. Aber Mr. Turton hat in seiner Anrichte ein Telefon.
Da sind Sie ungestört.»
    «Danke», sagte Ruth. Sie schluckte,
weil ihr Mund wie ausgetrocknet war, zwang sich zu einem Lächeln und folgte
ihm den Weg hinauf zum Haus.
    Sie hatte es geschafft, den ganzen Abend mit den anderen am
Lagerfeuer zu sitzen und nichts zu sagen. Sie hatte mit ihnen gesungen und beim
Aufräumen geholfen. Aber als sie jetzt neben Pilly im Schlafsaal lag, wußte
sie, daß sie es nicht mehr aushalten konnte, hier an diesem unberührten Ort zu
sein, der einen alle Angst und Sorgen vergessen ließ und einen glauben machte,
die Welt sei schön.
    Sie mußte zurück; sie mußte sofort
zurück. Drei weitere Tage waren jetzt, da sie wußte, was sie wußte,
unerträglich. Wieder hörte sie die Stimme ihrer Mutter, leise und von Störungen
verzerrt, ihre abgerissenen Worte ...
    Es war ein ganzes Stück nach
Mitternacht; alle schliefen. Ruth stand auf, zog sich an, kritzelte beim Licht
einer Taschenlampe ein paar Zeilen. Sie würde nur den kleinen Leinenbeutel
mitnehmen, den sie auf den Ausflügen bei sich gehabt hatte; den Rest würde
Pilly bringen. Sie würde versuchen, ein Auto zu finden, das sie nach Alnwick
mitnahm, und dort auf den ersten Bummelzug warten, der in Newcastle Anschluß an
den Expreß hatte. Es war gleich, wie lange sie brauchte, Hauptsache, sie war
unterwegs. Jede halbe Stunde mehr, die sie hier verbrachte, war ein Verrat.
    Leise stieg sie die Leiter hinunter
und ging hinaus. Die Schönheit des mondglänzenden Meeres machte ihr selbst
jetzt in ihrem Elend tiefen Eindruck, aber sie würde sich nicht wieder
verführen lassen, nie wieder. Rasch ging sie das Sträßchen zwischen den Erlen
und den Haselnußbüschen hinauf.
    Als sie oben hinter dem Haus ankam,
hörte sie Musik. Cole Porters Night and Day, ein wunderbares Lied,
träumerisch ... und sie sah das Licht, das auf die Terrasse hinausströmte.
Natürlich. Verenas Geburtstagsfeier. Sie hatte sie ganz vergessen – seit dem
Anruf ihrer Mutter in eine andere Welt versetzt. Als sie mit der Absicht, den
Weg zur Straße abzukürzen, über den Kies ging, sah sie, daß die Auffahrt voller
Autos war: hauptsächlich Zweisitzer, blaß und farblos im Mondlicht, die Form
jedoch – elegant, schnittig. Autos für lachende junge Männer mit flatternden
Schals und großen Autobrillen, die, einen Arm um ihre kichernden Freundinnen
gelegt, zu schnell fuhren.
    Etwas früher war ein kurzer
Regenschauer niedergegangen. Ihre Schuhe waren sofort durchnäßt, als sie über
den Rasen ging. Die Lampions schwankten sachte im leichten Wind; die hohen
Fenster waren nicht verhüllt und oben offen. So klar wie auf einer Bühne konnte
sie die tanzenden Paare sehen. Die Melodie war jetzt eine andere, ein Tango.
Sie kannte den Text: It was all 'cos of my jealousy. Einige Paare
tanzten Wange an Wange, die meisten alberten herum, weil es den Briten
unmöglich war, irgend etwas ernst zu nehmen; ganz gewiß nicht die Eifersucht,
ganz gewiß nicht die Liebe.
    Der Salon erschien jetzt, da die
Flügeltür geöffnet war, riesengroß. Sie sah den leuchtenden Blumenschmuck, die
silbernen Eiskübel für den Champagner. Einige
ältere Frauen saßen am Rand der Tanzfläche und beobachteten die jungen Mädchen
in ihren festlichen Kleidern und die arroganten jungen Männer.
    Und wie arrogant sie waren! Wie sie
dröhnten und lachten, als die Musik aufhörte, die Köpfe warfen, ihre Mädchen
zur Kredenz zogen, wo die Gläser standen, sich und ihnen frisch einschenkten.
Sie brüllten vor Lachen und klopften sich gegenseitig auf die Schultern,
während in Wien Menschen in Viehwaggons zusammengetrieben und nach Osten
gebracht wurden, während Heini ...
    Aber davor schreckte ihr Geist zurück.
Er wollte Heini nicht folgen.
    Jetzt konnte sie Quin sehen. Er war
gerade ins Zimmer gekommen, mit einem hohen Glas, das er zu Verena brachte,
die in einem hochlehnigen Sessel saß. Er hatte keine Ähnlichkeit mit den schwadronierenden
jungen Männern, das mußte sie selbst in ihrem Zorn zugeben.

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