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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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Komiker auf der Ukulele gespielt und dauernd seine Hose verloren
hatte. Wenn das britische Kultur war, so würde er sich hier sehr unglücklich
fühlen.
    Meierwitz hatte ein Stück Kartoffel
abgeschnitten und es dem Rotkehlchen hingeworfen, das es mit seitlich geneigtem
Kopf betrachtete und dann zu dem Schluß kam, daß es weiterer Beachtung nicht
wert sei. Der brutale Aufseher, ein Eisenwarenhändler aus Graz, der fest
entschlossen war, diesen unordentlichen Haufen von Flüchtlingen zu einer
ordentlichen Arbeitstruppe hinzutrimmen, trat zu Meierwitz und sagte: «Gib dir
keine Mühe, der frißt nur Würmer.» Er war schon richtig stolz auf das
wählerische Gebaren dieses britischsten aller
Vögel und warf Heini Radek einen geringschätzigen Blick zu. Man sollte meinen,
der Junge wäre froh, aus Deutschland rauszukommen; statt dessen winselte er ständig
wegen seiner Hände.
    Die Entdeckung, daß sein Visum eine
Fälschung war, hatte Heini getroffen wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Die
Stunden bei der Einwanderungsbehörde am Flughafen waren ein Alptraum gewesen,
den er bis an sein Lebensende nicht vergessen würde. Zusammen mit den anderen,
deren Papiere nicht in Ordnung waren, hatte man ihn in dieses Transitlager
gebracht und – fand er – wie ein Tier behandelt; eingesperrt, in Baracken
zusammengepfercht, herumgestoßen. Anfangs hatte er gefürchtet, man würde ihn
zurückschicken; aber man hatte in England das schreckliche Dilemma der
Flüchtlinge endlich begriffen, und nach dem ersten Tag hatten alle im Dovercamp
erfahren, daß sie bleiben konnten. Diejenigen, die sich freiwillig zur
Landarbeit meldeten oder bereit waren, sich dem Pionierkorps anzuschließen,
konnten schnell entlassen werden; die anderen mußten erst geprüft werden und
ein Verfahren durchlaufen; vor allem mußte ein Bürge gefunden werden, der
garantierte, daß sie dem Steuerzahler nicht zur Last fallen würden.
    Heini verspürte nicht ein Fünkchen
der Euphorie, die diese Nachricht bei den anderen auslöste. Ausgeschlossen, daß
er sich zur Landarbeit meldete oder zu den Pionieren ging. Kein Mensch schien
zu begreifen, daß die Musik nicht einfach irgendein selbstsüchtiger
Zeitvertreib war; sie war seine Mission. Aber dafür hatten auch die
ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen kein Verständnis, die mit nervtötender
Langsamkeit seine persönlichen Daten aufnahmen. Es dauerte zwei Tage, ehe er
Leonie Berger anrufen durfte, aber die Verbindung war so schlecht, daß er sie
kaum hören konnte; auch neigte er dazu zu vergessen, daß diese Familie, der
einst alle Türen in Wien offengestanden hatten, jetzt mittellos und staatenlos
war wie er selbst. Die Bergers konnten nicht für ihn bürgen; ihr Name hatte bei
der Bürokratie kein Gewicht. Sie konnten jedoch versuchen, jemanden zu finden,
der die Bürgschaft für ihn übernehmen würde; sie wollten ihm helfen. Und Ruth
würde kommen. All seine Hoffnung konzentrierte sich auf sie, als er die Hände
in den Kübel mit dem kalten Wasser
tauchte und die nächste Kartoffel herausholte.
    Am späten Nachmittag, als sie aus
Emailbechern ihren Tee tranken und dazu die trockenen Biskuits aßen, die
ausgeteilt worden waren, erschien ein junger Mann von der Verwaltung an der Tür
der Baracke.
    «Mr.
Radek?» rief er.
    Heini stand
mit klopfendem Herzen auf.
    «Sie haben
Besuch. Im Büro.»
    «Wer ...?»
stammelte Heini.
    «Ein Mädchen», sagte der Bote. «Eine
Klassefrau.» Er sah Heini mit neuem Respekt an.
    Ruth stand ruhig da und wartete. Sie war seit der
vergangenen Nacht unterwegs und hatte kaum etwas gegessen, aber sie brauchte
auch nichts, so froh und glücklich war sie. Auf der ganzen Fahrt von
Northumberland nach Süden hatte sie voller Angst und Verzweiflung gebetet,
versprochen, alles hinzugeben, was ihr lieb und teuer war, wenn er nur in
Sicherheit wäre. Und dann war das Wunder geschehen: Ihre Mutter hatte ihr
erklärt, daß Heini hier war, daß sie falsch verstanden hatte, daß das Lager in
England war und sie zu ihm fahren konnte.
    Als Heini eintrat, raubte ihr sein
Anblick die Stimme. Das war nicht das begnadete Wunderkind, das sie gekannt
hatte; dies war ein verängstigter, verwahrlost aussehender junger Mann,
unrasiert, die Hoffnungslosigkeit des Besiegten in den Augen. Von Liebe und
Mitleid überwältigt, breitete sie die Arme aus, und er flüchtete sich zu ihr.
    «Gott sei Dank, Ruth! Ich dachte
schon, du würdest nie kommen.»
    «Ach, mein Liebster. Du bist
wirklich hier. Du bist es

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