Die Morgengabe
über ein Jahrzehnt lang Musik gemacht
hatte, sagte nichts, tätschelte nur Leonies Hand. Er
erinnerte sich des komischen kleinen Mädchens, das eines Abends, als das
Quartett Kurt Berger zum Geburtstag ein Ständchen gebracht hatte, wie der Wind
aus seinem Kinderbett geklettert war und
im Nachthemd in den Salon gelaufen kam.
Mrs. Weiss, deren kastanienbraune
Perücke unter ihrem Hut etwas schief saß, begann eine langatmige und
verwirrende Geschichte von einem verschwundenen Mädchen, das gänzlich
unerwartet in einem Güterzug nach Dieppe wiederaufgetaucht war. Die Zweiundsiebzigjährige,
von den Stammgästen des TeaRooms als eine wahre Geißel Gottes betrachtet, war
von ihrem Sohn, einem wohlhabenden Rechtsanwalt, aus dem Dorf in Ostpreußen
geholt worden, in dem sie ihr Leben lang gelebt hatte. Der Anwalt wohnte jetzt
in einem eleganten Herrenhaus mit Garten und Seerosenteich in Hampstead und
hatte eine Engländerin zur Frau, die ihre schreckliche Schwiegermutter jeden
Morgen mit einem Taschengeld versehen, mit dem sie ihr Gewissen beruhigen
wollte, ins Willow abschob. Wenn Mrs. Weiss die Worte sprach:»Darf ich
Sie zu einem Stück Kuchen einladen?», packte die anderen Stammgäste das
Grausen. Sie wußten, wenn sie annahmen, würden sie sich Mrs. Weiss' endloses
Lamento über ihre böse Schwiegertochter anhören müssen, die ihr nicht erlaubte,
Zwiebeln zu braten, mit den Dienstmädchen zu plaudern oder im Haushalt zu
helfen.
Als sie mit ihrer Geschichte fertig
war, sagte die Engländerin, die sich ein Jahr lang standhaft geweigert hatte,
Gespräche von Tisch zu Tisch zu führen, falls Leonie ein Wassermann sei, so
stünden dem Daily Telegraph zufolge ihre Sterne gut. «Es hieß ganz
eindeutig, Sie könnten eine erfreuliche Überraschung erwarten.»
Aber als Kurt Berger müde vom langen
Marsch hereinkam und wenig später Onkel Mishak erschien, war klar, daß die
Prognose des Astrologen vom Daily Telegraph nicht auf Leonie zutraf.
«Nun, vielleicht morgen», meinte
Maud, als sie den Teller mit den Butterbroten auf den Tisch stellte, der das
Mittagessen der Bergers war.
«Ja, morgen vielleicht», echote Violet.
Und Leonie nickte und bedankte sich
und erkundigte sich dann nach der Katze, die oben, in der Wohnung der Damen,
ganz unpassenderweise in einem Wäschekorb Junge bekommen hatte.
Dann nahm Kurt Berger das Manuskript
zu seinem Buch und ging mit Dr. Levy in die öffentliche Bibliothek, und Paul
Ziller begab sich ins Jewish Day Centre, um zwischen Waschbecken und
Garderobespinden Bach zu spielen, und der Schauspieler (der auf Europas größten
Bühnen Schiller deklamiert hatte) machte sich auf den Weg zur Filmbörse, um zu
sehen, ob irgend jemand ihn in einem Film über böse Deutsche im Weltkrieg
«Schweinehund!» sagen lassen würde.
«Wollen wir mal sehen, ob wir ein
Schnitzel bekommen?» Mrs. Weiss nickte Leonie mit zerzaustem Kopf auffordernd
zu. Und Leonie nickte ebenfalls und begleitete die alte Dame die Straße
hinunter zum nahegelegenen Laden des Metzgers, mit dem Mrs. Weiss sich täglich
hitzige Wortgefechte lieferte; denn Mrs. Weiss dabei zu helfen, das zarte
Kalbfleisch zu beschaffen, das man für ein Schnitzel brauchte, und auf diese
Weise ihrer Schwiegertochter eins auszuwischen, war so zeitraubend und
zermürbend, daß es einfach als gutes Werk eingestuft werden mußte.
Wenn dann der lange Tag endlich um
war und Hilda über den Riß in ihrem Rock jammerte, der sich in Mrs. Manfreds
Teppichkehrmaschine verfangen hatte, und Onkel Mishak in seinem
schrankähnlichen Kämmerchen in seinen Schlafanzug stieg und «Gute Nacht,
Marianne» sagte, wie er das achtzehn Jahre lang jeden Abend getan und nicht
damit aufgehört hatte, als sie gestorben war, dann legten sich Leonie und ihr
Mann auf ihrer durchgelegenen Matratze nieder und hielten einander in den
Armen und konnten nicht schlafen.
In der Wohnung über dem Tea-Room Willow brannte noch ein Licht.
«Wir könnten natürlich diesen
oder jenen ihrer Kuchen bei uns einführen», sagte Maud, als die beiden Damen in
ihren Morgenrökken aus Flanell beim Kakao saßen.
«Aber Maud!
Doch nicht – etwa Strudel? Damit wäre Vater niemals einverstanden gewesen.»
Violet, dreiundvierzig Jahre alt, drei Jahre jünger als ihre Schwester, war
nicht so skeletthaft dünn wie diese und hatte noch braune Strähnen im grauen
Haar.
«Nein, keinen Strudel, das finde ich
auch. Das ginge zu weit. Aber es gibt doch da noch einen anderen Kuchen, von
dem sie immer
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