Die Morgengabe
sie scheute die Arbeit nicht. Alles, was
sie jetzt tat, war Opfergabe an Gott: an den katholischen Gott ihrer Kindheit,
an den jüdischen Gott, dessentwegen all diese verwirrten Menschen durch die
Straßen NordWest-Londons irrten – an jeden beliebigen Gott, völlig egal,
Hauptsache, er brachte ihr ihr Kind zurück.
Um zwölf Uhr dann schminkte sie sich
frisch und machte sich auf den Weg zum Tea-Room Willow. «Schlechte
Nachricht, wie mir scheint», sagte Miss Maud, die gerade die Zuckerdosen füllte
und durch das Fenster Leonie Berger beobachtete, die langsam über den Platz
kam. Selbst aus der Ferne war leicht zu sehen, wie behutsam sie einen Fuß vor
den anderen setzte, wie höflich sie mit den Tauben sprach, die ihren Weg
kreuzten.
«Schlechte Nachrichten», sagte auch ihre Schwester, Miss Violet,
und trug ein Tablett mit leeren Tassen in die Küche, wo Mrs. Burtt ihre Arme
aus dem warmen Spülwasser zog und sagte, Hitler könnte was erleben, wenn sie
ihn je erwischen sollte.
Miss Maud und Miss Violet Harper
hatten das Willow vor fünf Jahren eröffnet, als sich herausstellte, daß
ihr Vater, der General, nicht so gut für sie vorgesorgt hatte, wie sie gehofft
hatten. Es war ein hübsches Lokal an der Ecke eines kleinen Platzes hinter der
Belsize Lane, und sie hatten es mit einem gefälligen blau-weißen Porzellan mit
Weidenmuster, mit blau-weiß karierten Vorhängen und einer Keramikkatze auf dem
Fensterbrett gemütlich eingerichtet. Dazu erzogen, Ausländer bestenfalls als
Pechvögel zu betrachten, hatten sich die Damen den Ansprüchen der Flüchtlinge,
deren Zahl im Viertel ständig wuchs, standhaft widersetzt. Mochten andere
Betriebe Torten mit fremdartigen Namen servieren und über alles und jedes
Schlagsahne kippen, Zeitungen an Haltern zur Verfügung stellen und Gespräche
quer durch das Lokal gestatten – in ihrem Tea-Room kam so etwas nicht in Frage.
Da servierte man den Gästen scones und Sandkuchen und zum Mittagessen
Rührei auf Toast, aber niemals etwas, das roch – und jeder, der länger
als eine halbe Stunde bei einer Tasse Kaffee saß, wurde zuerst von Violet
angehüstelt und, wenn das nichts half, lauter und deutlicher von der
couragierteren Maud.
Und dennoch hatte sich bis zum Sommer
1938, als sich zu den Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland entwurzelte
Österreicher gesellten, die Einstellung der beiden Damen fast unmerklich geändert.
Konnte man denn Dr. Levy mit seinem Walroßschnauzbart und den klugen braunen
Augen wirklich anhüsteln, nachdem er Violets Schleimbeutelentzündung
diagnostiziert hatte? Konnte man es Mr. Ziller übelnehmen, wenn er sich selbst
auf den Arm nahm und vorführte, wie er einer
Amerikanerin mit defektem Hörgerät auf seiner Geige Schwarze Augen vorspielte?
Konnte man Mrs. Berger gegenüber
kühl bleiben, die gleich an ihrem ersten Tag in England mit ihrem distinguiert
aussehenden Mann und ihrem reizenden alten Onkel ins Café gekommen war und den
Sandkuchen gelobt und ihnen Fotografien von ihrer hübschen, stupsnasigen
Tochter gezeigt hatte? Ruth würde kommen und hier studieren, hatte sie
erzählt; und bald würde auch ihr Freund, ein genialer Konzertpianist, ihr
folgen. Die Veränderung, die seit jenem Tag mit Leonie Berger vorgegangen war,
hatte selbst die beiden Generalstöchter erschüttert, obwohl sie wahrhaftig an
Geschichten von Schmerz und Verlust gewöhnt waren.
Leonie betrat das Café, nahm ihren Weg zu dem Stuhl, den
Paul Ziller ihr herauszog, nickte dem Schauspieler von der Wiener Burg zu, der
alten Mrs. Weiss mit ihrer Federtoque, der Engländerin mit dem Pudel ...
Dr. Levy legte sein Buch über Die
Erkrankungen des Knies aus der Hand, das er vor zwanzig Jahren mühelos
verstanden hätte, das jedoch einem Herzspezialisten, der kein Jüngling mehr war
und nicht gefrühstückt hatte, in Englisch etwas Mühe machte.
«Ich habe gehört, daß jetzt viele
Studententransporte in Schottland ankommen», sagte er.
«Ja, ich danke Ihnen», antwortete
Leonie.»Mein Mann erkundigt sich bereits.»
Maud stellte Leonie unaufgefordert
ihre gewohnte Tasse Kaffee hin. Der Schauspieler vom Burgtheater – ein blonder,
aufregend gutaussehender Mann, der wegen
seiner politischen Ansichten, nicht wegen seiner Rasse das Land hatte verlassen
müssen – bemerkte, viele Leute flüchteten jetzt über Portugal, was von dem
Ehepaar aus Hamburg, das an einem Ecktisch saß, bestätigt wurde.
Paul Ziller, unsagbar einsam und
allein ohne die drei Männer, mit denen er
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